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Blinde in Europa

Ich spüre was, was du nur siehst - Blinde in Europa; das war der Titel einer Sendung des Deutschlandfunks aus der Sendereihe "Gesichter Europas". An Beispielen einzelner Personen wurde hier die Situation blinder Menschen in einigen europäischen Ländern dargestellt. Klaus Bierbaum hat für uns die Beiträge zusammengestellt:

Russland

Anna Kaprova bewegt sich sicher durch die Straßen und erklärt gleichzeitig noch die architektonischen Besonderheiten. Denn die blinde Frau arbeitet als Stadtführerin. Zu ihr kommen Nichtsehende und Sehende, um sich die russische Hauptstadt zeigen zu lassen:

Es ist 2 Uhr, tönt Annas Armbanduhr. "Lena", ruft sie, "sind denn schon Leute gekommen?" "Zwei, Albina und Pascha", antwortet Lena. Anna Kaprova ist 55. Sie sitzt in einem kleinen vollgestopften Büro im Zentrum Moskaus und wartet auf ihre kleine Reisegruppe.

"In meiner Familie wurde schon immer über Architektur und Kunst gesprochen. Meine Schwester ist Künstlerin. Als ich klein war, konnte ich noch sehen, zwar schlecht, aber sehen. Da habe ich noch einige Vorstellungen von alter Architektur, die ich sehr liebe. Meine jüngste Tochter ist auf meinen Wunsch hin Architektin geworden. Sie zeigt und erklärt mir die moderne Architektur. Sie baut für mich auch Modelle zum Anfassen."

Mit ihrer kleinen Reisegruppe, einem Mädchen und zwei Jungen, geht Anna in ein Museum. Unzählige Modelle stehen hier, der Kreml, die Erlöser- und Basiliuskathedrale, die Universität; alle handlich, detailgetreu und farblos. Die meisten hat Annas Tochter gebaut. Anna stellt sich vor das Kreml-Panorama:

"Heute machen wir eine Exkursion durch den Kreml; unsere Hände können frei und ungestört im Kreml spazieren gehen. Wenn der Schnee weg ist, treffen wir uns wieder und spazieren mit den Füßen durch den Kreml und sehen uns alles an. Wir gehen hier entlang", dirigiert Anna und erzählt Geschichten.

Albina fährt mit der Hand wieder und wieder über die Zwiebeltürme der Kreml-Kirchen.

Unzählige Stadtführungen hat Anna Kaprova schon gemacht, für Blinde, für Sehende, im Kreml oder anderswo. Im Alltag trifft sie noch immer auf Vorurteile und ist selbst manchmal unsicher:

"Als ich einmal Taxi fuhr, wusste ich, an welchen Plätzen wir vorbei kommen. Ich beschrieb die Architektur und erzählte Geschichten. Erst als ich ausstieg, gab ich zu, dass ich das alles gar nicht sehen kann. Ich hatte das nicht gleich gesagt, weil ich Angst hatte, der Fahrer nimmt mich nicht mit. Für den Fahrer war das ein Schock. Zaghaft fragte er noch, ob ich denn schreiben kann. Natürlich kann ich schreiben. Ich habe einen Hochschulabschluss für Philosophie ..."

"... Ich begann an einer normalen Schule. Dann erblindete ich, und niemand wusste, was zu tun ist. Bei uns gab es zwar Blindenschulen, doch weder meine Lehrer noch mein Arzt wussten, was zu tun ist, um sie zu besuchen. Meine Eltern waren auf sich allein gestellt. Die Informationssituation war schrecklich. Heute gibt es Telefonnummern und Kontaktadressen, wo man sich informieren kann. Außerdem haben wir Psychologen und Juristen, die helfen. Das alles haben wir selbst organisiert."

Anna ist Mutter zweier gesunder erwachsener Töchter. Zweimal in der Woche hält sie gut besuchte Vorlesungen über Architektur an der Universität. In ihrer Freizeit bietet sie Stadtführungen an oder kümmert sich um blinde Studentinnen und Studenten. Stolz klingt bei Anna an, wenn sie weiter erzählt: "In diesen zwei Schränken stehen alles Arbeiten meiner Absolventen in den verschiedensten Wissenschaften - Mathematik, Physik, Chemie. An der Wand da hängt ein Bild; der Maler ist blind, er studiert jetzt an der Akademie. Ich habe das Bild zwar nicht gesehen, aber viele haben mir gesagt, wie schön es ist. Es zeigt auch, was möglich ist. Noch immer wirkt das Wort blind bei den Leuten wie eine Mauer. Diese Mauer müssen wir einreißen. Man muss darüber reden!"

Die energische Anna redet und handelt: "Ich selbst sitze im Stadtparlament von Moskau. Wir haben durchgesetzt, dass an wichtigen Stellen die Verkehrsampeln akustische Signale bekommen. Wir müssen weitere Barrieren abbauen, das ist sehr wichtig!"

Aus: "Die Gegenwart", Zeitschrift des DBSV, Nr. 10, Oktober 2003.
Weitere ausgewählte Artikel aus der "Gegenwart" finden Sie auf der Homepage des Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverbandes.

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Erstellt am Mo, 13.10.03, 10:20:09 Uhr.
URL: http://anderssehen.at/alltag/berichte/moskau.shtml

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