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Briefe von Unterwegs
Türkei, Iran, Pakistan Indien

Rundbrief 5
Religion, Dreck und "friendship makers".
Varanasi und Bodh Gaya.
- Shantiniketan Indien, 30. Januar 2005

Eine Woche ist's her, seit ich meinen letzten Rundbrief geschrieben habe. Es ist und war natürlich kein Rundbrief im eigentlichen Sinne des Wortes, denn damit wäre doch wohl ein Brief gemeint, der im Stile früherer Zeiten als wertvolles Einzelstück nach vorher definiertem Plan von Hand zu Hand weitergereicht wird. Statt Rundbrief sollten wir deshalb vielleicht eher Streubrief oder Mailbewurf oder - unverfänglicher - einfach Reisebericht sagen. Gut, ihr habt recht, das ist Haarspalterei, man weiss ja, was mit "Rundbrief" heutzutage gemeint ist, doch weshalb sollen wir uns mit Ungefährem zufrieden geben, wenn wir es besser können? Sollen wir unsere Sprache zu einem Grunzen und unser Denken zu einer wahllosen Aneinanderreihung von Schlagworten verkümmern lassen, nur weil wir angeblich keine Zeit für Genauigkeit haben, weil wir immer am Rennen sind? "Haarspalterei" - was für ein abscheulicher Ausdruck für die edle Tugend der Genauigkeit! Man müsste unbedingt eine Liga zum Schutze der Haarespalter gründen, und das Recht auf Haarspalterei sollte - als Grundlage jeder Wahrheitssuche - in die Carta der Menschenrechte aufgenommen werden! Ja das Haarespalten müsste als hohe Kunst anerkannt und öffentlich gefördert und systematisch praktiziert werden. Doch davor fürchten sich natürlich die Autoritäten, denn wo kämen wir hin, wenn wir uns nicht mehr durch unsere Termine hetzen liessen, sondern damit begännen, in aller Ruhe das Geflecht von Schlagworten zu untersuchen, in dem wir wie in einem Netz gefangen sind? - Was die Haare betrifft, so sind die meinen - soweit noch vorhanden - seit zwei Tagen im übrigen alle blau. Vicky meinte, eine gewisse Auffrischung der Fassade a la indienne könnte dem grauen "Uncle" aus Switzerland nichts schaden, und ich dachte mir dasselbe. Bis jetzt habe ich auch keine nachteiligen Effekte festgestellt. Mein Appetit ist nach wie vor gut, und die Farbe scheint nicht ins Hirn gesickert zu sein. - Jetzt aber Schluss mit den Präliminarien. Die Lage ist ernst. Ich bin mit meinem Reisereport nach wie vor in Verzug. Deshalb schnell die richtige Brille vorgekramt, den Stuhl zurechtgerückt und los geht's.


VARANASI, heilige Kloake

Die Reise nach Varanasi war mühsam. Nach etwa 16stündiger Fahrt, als Amie und ich bereits auf das Ende zu hoffen begannen, verwandelte sich unser Zug, der das schmückende Beiwort "Express" in seinem Namen trug, aus unerfindnlichen Gründen plötzlich in einen Bummelzug allererster Güte, der bei jedem Misthaufen stehen blieb, wobei die eingelegten Pausen von Mal zu Mal länger wurden. Um uns aber auch zwischen den Stationen genügend Zeit zur Betrachtung der abgeernteten Felder Indiens und seiner immer gleichen, farblosen Dörfer zu geben, schienen auch alle Signale entlang der Strecke bei unserer Annäherung auf Rot umzuschalten, was den Fortgang der Reise natürlich zusätzlich verlangsamte. Während ein Expresszug nach dem anderen an uns vorüberbrauste und in Richtung Varanasi entschwand, steigerte ich mich in einen ausgewachsenen, von arroganter Besserwisserei triefenden Ärger über die unmögliche Informationspolitik und Kundenbetreuung der indischen Eisenbahn hinein. Ich schimpfte innerlich in schlimmster Schweizer Touristenmanier. Keine gescheiten Auskünfte, keine Betreuung während der Reise, keine Informationen über die Verspätung via Lautsprecher ... Ich konnte mich auch nicht damit abfinden, dass keiner der immer spärlicher werdenden Reisegefährten eine Ahnung zu haben schien, wie weit es noch bis Varanasi sei. Die Auskünfte in dieser Sache variierten von freundlichen "5 minutes" bis zu erschreckenden "6 hours". Mit andern Worten, niemand weiss was Genaues. Dass mir - vermutlich von einem der bei jedem Halt in den Zug steigenden Bettler - während der Nacht meine Schuhe geklaut worden waren trug auch nicht zur Verbesserung der Laune bei. Klar, die Turnschuhe sind ersetzbar, und Amie zog auch gleich ein paar Reservesandalen aus ihrem riesigen Rucksack. Aber diese Demütigung, nachdem ich bisher doch der perfekte Reisende war, nix krank, nix klau, nix Problem ... Jetzt, wo man sie gebraucht hätte, waren im übrigen auch die Dutzenden von Tee- und Kaffee-, Erdnuss- und Omlett-, Curry- und Tschamienverkäufer, welche ihre Produkte sonst andauernd unter lautem Geschrei in den Wagen der indischen Züge feil bieten (es sind tatsächlich immer Männer; die Frauen sind mir im Umfeld der Eisenbahn nur als Bettlerinnen aufgefallen), mit einem Male verschwunden. Allerdings hätte ich vermutlich auch nichts gekauft, wenn sie da gewesen wären, denn so schnell vergrabe ich das Kriegsbeil nicht, wenn es einmal ausgegraben ist! Doch wie alle Freuden und alle Leiden hatte auch diese Fahrt endlich ein Ende: nach 24 statt 18 Stunden waren wir schliesslich da: Varanasi Junction!

Wie üblich wurden wir vor dem Banhof auch diesmal von einer Horde von Rikshafahrern überfallen, die kreuz und quer nach unserem Hotel fragten, uns irgendwelche Guest Houses empfalen und uns in ihre Rikshas zu manövrieren versuchten. Diese geschäftstüchtige Aufdringlichkeit kann zwar etwas lästig sein, doch wenn man einmal in einer Riksha sitzt so ist von der ganzen Aufregung nichts mehr zu spüren. Im Gegenteil: Die Rikshafahrer - auch dies eine ausschliessliche Männerdomäne - sind meistens ausgesprochen hilfsbereit. Wenn sie selber nicht weiter wissen, so fragen sie nach links und rechts und zeigen dir im Bedarfsfall mit grosser Geduld und Selbstverständlichkeit auch noch ein zweites oder drittes Hotel, ohne dafür sofort mehr Geld zu verlangen. So fanden auch wir schliesslich eine brauchbare Unterkunft in der Nähe des Ganges. Brauchbar bedeutet in Indien, ein ziemlich kleines Zimmer - oft ohne irgendwelche Möbel, abgesehen von einem in der Regel sehr harten Bett - und ein eigenes Bad. Auch diese Bäder sind vergleichsweise einfach eingerichtet. Im Gegensatz zu Pakistan sind die traditionellen Kauerklos (bei uns hiessen sie früher, als die political correctness noch nicht erfunden war, Tschinkeschissi"; hier spricht man vornehm von "indian toilet") hier zwar eindeutig auf dem Rückzug, doch auch in relativ guten Hotels (Preislage 200 bis 400 indische Rupien, d.h. 6 bis 12 Schweizer Franken) gibt es oft keine Dusche und kein fliessend warm Wasser. Dieses wird einem auf Wunsch in einem Eimer ins Zimmer gebracht und man wäscht sich dann mit Hilfe der kleinen, in jedem Badezimmer vorhandenen Eimerchen, die man sonst zum Waschen seines Hinterns benützt. Eine Stange zum Aufhängen seines Handtuches sucht man im übrigen auch in diesen Hotels zumeist ebenso vergebens wie einen Haken zum Aufhängen seiner Jacke oder ähnlich nützliche Dinge. Doch genug davon. Varanasis Berühmtheit beruht ja schliesslich nicht auf der Qualität seiner Eimer und Eimerchen und ähnlich weltlichen Dingen! Varanasis Sache ist das zeitlos Jenseitige!

So wie die am Ganges gelegenen Orte Haridwar und Rishikesh gilt auch das einige hundert km flussabwärts liegende Varanasi oder Benares, wie die Stadt früher hiess, den Hindus als heilig. Sich im Ganges zu waschen birgt zwar ein gewisses Gesundheitsrisiko, denn sein Wasser ist - milde ausgedrückt - nicht gerade sauber, doch für die gläubigen Hindus gilt in moralischer Hinsicht dennoch weiterhin: Keiner wäscht weisser als der Ganges bei Benares. Noch glücklicher sind allerdings diejenigen, die in Benares sterben können, oder die doch so nahe wohnen, dass man ihren Leichnam nach dem Tod in diese heilige Stadt bringen und ihn am Ufer des Ganges verbrennen kann. Sie werden auf diese Weise, so hat man mir erklärt, von so viel schlechtem Karma befreit, dass auch ein durchschnittlicher Mensch hoffen kann, danach im nächsten Leben in einer deutlich besseren Position oder Kaste wiedergeboren zu werden. So gesehen stellt auch das mit dem Bad im Ganges verbundene Gesundheitsrisiko KEIN Problem dar. Im Gegenteil, es macht die Sache für den gläubigen Hindu nur noch attraktiver, denn die Aussicht, in Benares bestattet und danach auf höherer Ebene wiedergeboren zu werden lässt alles andere als unwichtig erscheinen.

Natürlich. Jetzt spotte ich statt mich ehrfurchtsvoll vor dem grossen Glauben der Inder zu verneigen. Auch hier fehlt die Gelassenheit - gegenüber Amie sprach ich in Rishikesh und Varanasi öfter mit etwas schlechtem Gewissen von "religiösem Hokus-Pokus" -, doch spielt die Hoffnung auf eine bessere Wiedergeburt hierzulande gerade beim einfachen Volk tatsächlich noch eine grosse Rolle, und Benares ist so gesehen auch für aufgeklärte InderInnen noch immer ein besonderer Ort.

Die Stadt ist deshalb so heilig, weil Schiwa, einer der zahlreichen Götter der Hindus, nach dem Ausbruch aus seinem Berg im Norden Indiens hier erstmals die Erde berührt haben soll. So oder ähnlich sagen und glauben jedenfalls die Hindus. Die Stadt selbst hat vielleicht zwei oder zweieinhalb Millionen EinwohnerInnen. Sie liegt am - wenn ich mich nicht irre - rechten Ufer des Ganges, der sich hier noch einmal nach Norden dreht und für eine Weile seinem Ursprung in den Höhen des Himalaja entgegenströmt.

Benares hinterlässt bei seinen BesucherInnen sehr unterschiedliche Eindrücke. Arnold Heim, ein Schweizer Geologe, der Benares in den 1930er Jahren besuchte, war von dem, was er dort sah, offenbar eher entsetzt. In seinem Bericht schreibt er u.a.: "Gegen eine Million frommer Hindus aller Kasten pilgern jährlich nach Benares. Zu Dutzenden liegen die Kranken in Lumpen gehüllt am Strassenrand, um dort zu sterben. Die anderen steigen die Steinstufen hinab, um sich in dem heiligen Wasser von ihren Sünden rein zu waschen. (…). Sie spülen sich den Mund und trinken sogar das trübe Wasser, in das die Leichen kleiner Kinder oder Pockentote geworfen werden. In einem Ruderboot fahren wir der gewaltigen Front von Häusern, Tempeln, Grabmälern, Fürstenpalästen und Türmen im ersten Morgenlicht entlang, um das grandiose Schauspiel zu betrachten und zu photographieren. Auf den Steinstufen braten die Leichen in offenen Holzhaufen. Gerade sehen wir, wie halbverbrannte Leichenreste ins Wasser geworfen werden, wo sie dann von Krokodilen, Fischen oder Riesenschildkröten aufgeschnappt werden." - Ganz so gräulich kam mir die Stadt zwar nicht vor - von Krokodilen habe ich nichts gemerkt und mit dem Verbrennen der Leichen scheint es heute auch besser zu klappen -, aber gerade gemütlich kam mir Benares auch nicht vor.

Da das Baden im Ganges so wichtig war, haben sich im Laufe der Zeit immer mehr indische Könige und Fürsten ein Stadthaus oder einen Palast in Benares gebaut, von welchem aus man über breite Treppen direkt in den je nach Wasserstand 10 bis 20 Meter tiefer gelegenen Fluss hinabsteigen kann. Diese einzelnen Badestellen wurden vor einiger Zeit zu einer Art ununterbrochener Uferpromenade verbunden, einem Auf und Ab von Treppen und Wegen, Terassen und "Grünflächen", so wie die über ihnen thronenden Paläste manchmal noch halbwegs intakt und gepflegt, manchmal völlig zerfallen und zu Rastplätzen für Wasserbüffel und andere Tiere geworden sind.

Aus den engen Gassen der hinter den Palästen sich erstreckenden Altstadt und aus allerlei Rohren und Röhren sickert und quillt mehr oder weniger bräunliches Wasser, welches sich in kleineren und grösseren Bächlein seinen Weg zum Fluss sucht. Diese Brühe, welche das Spazieren entlang des Flusses zu einer etwas schlüpfrigen Veranstaltung machen kann, mischt sich an vielen Orten mit den Resten des letzten Hochwassers und den Bestandteilen der Paläste, für deren Erhalt den Maharatschas das Geld fehlt, seit Indira Gandhi, von der im übrigen sonst nicht viel Rühmliches zu berichten ist, diesen Herren von anno dazumal zu Beginn der 1970er Jahre verboten hat, ihre früheren Untertanen weiterhin zu besteuern. Einige dieser Paläste sind mittlerweile zwar in Nobelhotels verwandelt worden, in vielen haben sich inzwischen jedoch Bettler eingenistet oder sie werden als Kuhstall benützt.

Zwei Badestellen werden traditionsgemäss als "burning Ghat" (als Verbrennungsort) für die Hunderten von Toten benützt, die hier täglich in aller Öffentlichkeit verbrannt werden. Beim Spazieren in der Altstadt begegnen einem häufig kleinere und grössere Leichenzüge, wobei die Toten lediglich auf einer Bahre liegen und von einem Tuch zugedeckt sind. Oft ist das Gesicht sichtbar. Die vor und hinter der Bahre Einhergehenden - wieder fehlen die Frauen, da sie für so etwas "zu emotional" seien - singen abwechselnd ein immer gleiches, kurzes Mantra, während sie beinahe zu rennen scheinen, treppab dem Wasser entgegen. Am Ufer wird die Bahre abgestellt. Ein Teil der "Trauernden" beginnt jetzt mit den Holzhändlern über den Preis des benötigten Brennholzes zu feilschen. Andere bereiten die Waschung im Ganges vor. Dabei sind nicht selten auch ein paar neugierige Ziegen mit von der Partie. Sie interessieren sich vor allem für die Blumen und evtl. andere essbare Opfergaben, von denen die Toten bedeckt sind, und die sie, als echte Feinschmecker, nicht einfach so dem Ganges und den zweifelhaften Göttern der Menschen überlassen wollen.

Überhaupt ist die Stimmung bei diesen Verbrennungen durchaus nicht feierlich in unserem Sinn. Wegen so ein bisschen Tod und Sterben bleibt das Leben am Ganges nicht stehen: Da wird spaziert und Tee getrunken, es wird gehandelt, gebettelt, angepriesen und geschwatzt, gespielt und gelacht. Verkäufer bieten irgendwelchen Krimskrams an, Bootsvermieter versuchen, Kunden für ihre Fahrten zu kriegen, Menschen lassen sich auf irgend einem Stuhl mitten im Getümmel die Haare schneiden, sie werden massiert oder lassen sich die Schuhe putzen, während andere im Dreck liegen und schlafen oder sich von einem gelbgekleideten Sadu ihre Zukunft aus der Hand lesen und sich in die dunkeln Geheimnisse der Göttin Kali einführen lassen. Derweil werden die Toten 10 oder 15 Meter weiter weg in ein Tuch gewickelt und in den Ganges getaucht. An zwei oder drei besonderen Stellen des Flusses wird gewaschen - wiederum von Männern! -, hie und da stehen ein paar gutmütige Wasserbüffel quasi als Dekoration in der Landschaft; Hunde rennen umher und Jugendliche spielen irgendwelche Steinwurfspiele und lassen Drachen steigen. Wenn man sich über den Holzpreis geeinigt und der Scheiterhaufen bereit ist, wird der Leichnam in seinem Tuch darauf gelegt. Noch einmal gibt es diverse rituelle Handlungen, welche in der Regel vom ältesten Sohn vorgenommen werden, und dann zündet dieser den Holzstoss an. Nach drei bis vier Stunden ist der Leichnam verbrannt. Derweil sitzen die "Trauernden" auf den Treppen und Mauern ringsum, trinken Tee, meditieren über die Vergänglichkeit des Daseins oder nützen die Zeit, um ein paar eigene Geschäfte zu erledigen.

Benares ist ein besonderer Ort, doch worin liegt seine Besonderheit? Das Verbrennen der Toten auf offenen Scheiterhaufen gehört in Indien vor allem auf dem Land und in kleineren Städten durchaus noch zum Alltag, wenn die Verbrennungsorte laut Vicky in der Regel auch ausserhalb der Städte liegen. Die Burning Gahts allein können es also nicht sein. Doch was macht dann den Reiz dieser Stadt aus, von der so viele IndienfahrerInnen schwärmen? Ist es der häufige Gestank nach menschlichem Urin und nach Rauch? Ist es das leicht gruselige Ambiente um die Burning Ghats? Ist es der allgegenwärtige Zerfall? Sind es die auffallend vielen Kühe, die in den engen Strassen und Gassen Varanasis nach Essbarem suchen oder mitten auf einer Kreuzung liegend den chaotischen Verkehr beobachten? Sind es die Abfallberge in den Seitengässchen der Altstadt? Ist es der Lärm der zahlreichen Generatoren, einer Folge des chronischen Energiemangels, mit welchem die Stadt seit dem Bau von drei stromfressenden, sonst jedoch weitgehend nutzlosen Kläranlagen zu kämpfen hat? Sind es die bewaffneten Soldaten, welche seit einigen Jahren aus Angst vor religiösen Kravallen wie sie in Indien während der letzten Jahrzehnte immer wieder vorkamen die Moschee bewachen, welche die muslimischen Eroberer vor 300 Jahren zum Ärger der Hindus an dem Ort gebaut haben, wo zuvor ihr heiligster Tempel stand? Nein. Interessant mag Varanasi sein, aber romantisch oder "zauberhaft" ist diese Stadt nicht. Und doch: Wenn in der abendlichen Dämmerung tausende von Lichtern den Fluss hinuntertreiben - Opfergaben für irgend einen grossen Gott - oder wenn früh am Morgen die ersten Menschen zum Fluss kommen, um sich zu waschen, dann ist Benares vielleicht wirklich schön. Dann kann man den Gestank und Dreck, die Armut und Lieblosigkeit dieser zum Mythos gewordenen Stadt vielleicht für ein paar Augenblicke vergessen und etwas von der religiösen Andacht wahrnehmen, mit der zahllose Menschen hier seit Jahrtausenden den Versprechungen des Ganges lauschen und auf eine bessere Wiedergeburt oder gar auf die endgültige Erlösung aus dem Kreislauf des Leidens hoffen. Doch diese Momente sind spärlich. Zumindest für Amie und mich überwogen der negative Eindruck und der Schock.

Immerhin. Wir haben auch in Varanasi gelebt! Ich habe der Pizzeria Vatika am AssiGhat den inoffiziellen Prix Martin für die beste westliche Küche Indiens gegeben, denn wenn ich mich sonst hie und da in westliche Speisegenüsse zu flüchten versuche, kehre ich meist ernüchtert zum einheimischen Angebot zurück, doch der Apfelkuchen, die Pizzen und die Müslis, ja sogar der Kaffee der Pizzeria Vatika würden selbst in Rom, Paris oder Heidelberg Furore machen! Eindrücklich war auch die Begegnung mit einem Bildhauer aus einer alten Künstlerfamilie. Er zeigte uns seine Arbeiten, lud uns zum Abendessen ein und erzählte voll Stolz, dass einige seiner Werke mittlerweile bereits in den USA zu bewundern seien. Er habe "gutes Karma", so seine typisch indische Erklärung. Seine Familie sei eine gute Familie, da müsse auch er Erfolg haben.

Ähnlich frei von irgendwelchen Selbstzweifeln war auch Guru Devu, dessen Türschild "Sanskrit, philosophy and yoga therapy" Amie und mich neugierig gemacht hatte. Er hockte, umgeben von Büchern und Papieren aller Art, mit gekreuzten Beinen vor uns auf einem kleinen Podium, während dem wir vor ihm auf der Erde sassen und ihm unsere Fragen unterbreiteten. O ja, er übe sich seit langem in Yoga. Sonst wäre er längst zum alten Mann geworden! Nein nein, 71, nicht 50 sei er. Ja, Professor sei er gewesen und 50 Bücher habe er geschrieben, darunter auch eines über indischen Humor. Ja ja, er habe gelernt, seine Zeit zu nützen. 50 Bücher und 300 Researchpaper, alle veröffentlicht, auch im Ausland! Sprach's und sprang von seinem Podium, um uns mit Stolz die Reihe seiner Werke zu zeigen.

Als wir Meister Devu verliessen, erklärte uns seine Frau, dass sie auch Zimmer vermiete, grosse, schöne Zimmer, gar nicht teuer. Ob wir sie sehen wollten. Wir wollten damals nicht, doch zehn Tage später, als ich noch einmal in Varanasi war, habe ich zwei Nächte bei Madame Devu zugebracht. Das Zimmer war klein, das Badezimmer so gut wie unbrauchbar, das Frühstück, ein Gläslein mit Zuckerwasser, was sie stolz als "Kaffee" anpries, und zwei kleine trockene Griessfladen, kostete so viel, wie an anderen Orten zwei grosse Teller Tsamien. Dabei klagte die alte Dame andauernd darüber, dass man heutzutage in Varanasi niemandem mehr trauen könne. "Everybody is cheating. Always cheating!"

Auch Beat, ein Schweizer, der seit 15 Jahren in Varanasi lebt und uns im Rahmen einer fünfstündigen Walking Tour einige Geheimnisse der Stadt gezeigt hat, sprach oft und gerne davon, wieviele Betrüger es in Varanasi gab. Er warnte uns vor allem vor den "professional friendship makers", wie er die Menschen nannte, die sich in scheinbar harmlos freundschaftlicher Absicht um irgendwelche einsamen TouristInnen kümmerten, sich mit ihnen anfreundeten, um sie nach einer oder zwei Wochen oder nach einem Monat hemmungslos auszunehmen. "Die haben Zeit, die können warten. Aber am Ende schlagen sie zu." - Zugeschlagen hat in Varanasi im übrigen auch die allmächtige Göttin Medicina: Amie lag einen Tag mit einer kräftigen Magenverstimmung samt Begleitmusik im Bett. Ich versuchte mich, nach Kräften durch zwei holländische Krankenschwestern, Zufallsbekanntschaften aus unserem Hotel, unterstützt, als Krankenpfleger und kümmerte mich um die nächste Etappe unserer Reise, während Amie ihrer Genesung entgegenschlummerte.

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Bodh Gaya -
Die Religion und die "professional friendship makers".

Wir waren am 30. Dezember in Benares angekommen. Eine Woche später reisten wir nach dem rund vier Stunden entfernten Bodh Gaya weiter. Bodh Gaya (oder Buddha Gaya wie manche sagen) sei, so hatte Amie mir bereits in Delhi erklärt, der Ort, an welchem Buddha nach siebentägigem ununterbrochenem Meditieren erleuchtet worden sei. Damit gehört Bodh Gaya zu den wichtigsten Orten für die Buddhisten, egal, ob es sich um solche tibetischer, thailändischer, japanischer oder sonst einer Glaubensrichtung handelt. Jährlich pilgern zehntausende von Mönchen und Laien nach Bodh Gaya, um den Enkel des Baumes zu sehen, unter dem Buddha damals gesessen haben soll, und um rund um den seither dort errichteten grossen Tempel zu beten und zu opfern; und wenn ein grosses religiöses Fest angesagt ist, trifft sich die ganze budhistische Welt in Bodh Gaya. Dann verwandelt sich der kleine Ort für ein paar Wochen in eine Mischung aus Jahrmarkt und Zeltlager. Auch als wir ankamen, stand ein solches Ereignis bevor. Ein grosses, 10tägiges Gebet für den Weltfrieden.

Auch in Bodh Gaya wurden wir bei der Ankunft von einer ganzen Schar hilfreicher Helfer umschwärmt, wobei sich vor allem drei Jungen heftig um unser Wohl bemühten. "You want guest house. Yes, I know. Very good. Very quiet ...". - In Erinnerung an Beats Warnung vor den professionellen Freundschaftsmachern und angesichts unserer Müdigkeit wollten wir von den sympathischen Helfern zwar nichts wissen. Wir vertrauten lieber unserer eigenen Findigkeit und den Informationen unseres "Lonely Planet". Doch liessen sich unsere Freunde nicht so leicht abschütteln. Während Amie schliesslich mit einem von ihnen auf Hotelsuche ging - wegen des bevorstehenden Festes waren die meisten der zentral gelegenen Guest Houses bereits ausgebucht -, sass ich in der Sonne vor dem Ohm-Restaurant, trank einen für indische Verhältnisse relativ guten Kaffee, "bewachte" unser Gepäck und plauderte mit einer wechselnden Zahl weiterer Jugendlicher. Was wir denn in den nächsten Tagen alles so unternehmen wollten? Ob wir Souvenirs kaufen wollten? Ob wir den japanischen Tempel oder das birmesische Kloster sehen wollten ... Ich hatte eigentlich keine Lust auf all diese Fragen zu antworten, sondern wollte (als gelernter Schweizer) erst einmal "in Ruhe ankommen", doch dafür hatten unsere Helfer offenbar keinen Sinn. Sie wollten plaudern, Kontakt knüpfen. "What's your country? What's your name? What is your job? Are you married ..." immer dieselben Fragen, mit denen man hier in Indien empfangen wird,immer dieses Gemisch aus Geschäft und Freundschaft, dieses halb echte, halb falsche Interesse.

Nach einer Stunde war das Hotelzimmer gefunden und Amie und ich machten uns auf, um unser Gepäck dort zu deponieren und anschliessend zum Tempel zu gehen. Unsere Helfer hatten uns inzwischen tatsächlich verlassen, und wir genossen die plötzliche Ruhe, indem wir schweigend und - der lokalen Sitte entsprechend - barfuss um den Tempel herumgingen - zunächst auf dem äussersten, höher gelegenen Weg, dann auf dem mittleren Umgang und schliesslich auf dem inneren, unmittelbar am Tempel entlang führenden Weg. Aus einem Lautsprecher erklang ein monotones Mantra. Vor und hinter uns gingen andere Menschen, ebenso schweigend und andächtig wie wir.

Je länger dieses Herumgehen dauerte desto stärker wurde meine Furcht davor, früher oder später in den Tempel treten und irgendeine Buddhastatue begrüssen zu müssen. Damit würde der ganze Zauber dieses besonderen Momentes verloren gehen - ein Zauber, der für mich gerade in der Tatsache bestand, dass wir das innere des Tempels NICHT betreten. Nachdem ich seit Wochen von so viel Religion und religiösen Diskussionen umgeben war, empfand ich diese respektvolle Zurückhaltung gegenüber dem Kern eines Glaubens als ausgesprochen wohltuend. Weshalb versuchen wir das, was wir nicht begreifen und erklären können, dennoch andauernd zu begreifen und zu erklären. Weshalb können wir uns nicht einfach in der Nähe des Geheimnisses aufhalten ohne es entschlüsseln zu wollen? Können wir uns nicht mit der Ahnung zufrieden geben, dass da etwas ist oder doch sein könnte ohne das Rätsel lösen zu wollen? Weshalb verschwenden wir unsere Zeit und Kraft damit, darüber zu streiten, welche Bewegung zu diesem oder jenem Mantra ausgeführt werden soll, welcher Gott der bessere und welche Auslegung des Korans oder der Bibel die richtigere sei. Weshalb all dieses Getue, dieses Übermass an Regeln, an gelehrter Debatte, an Tradition, an Abgrenzung und Recht haben wollen? Können wir nicht einfach Menschen und als solche einigermassen menschlich und anständig sein? Müssen wir unbedingt tibetische Buddhisten, Katholiken, Anhänger von Bahauallah oder einer anderen Gruppierung sein? Einige BudhistInnen, darunter auch Amie, haben mich in den letzten Wochen öfter beruhigt, dass Buddha auch nichts von dieser Art der Religiosität gehalten habe, dass es ihm in seiner Lehre im Gegenteil nur um Mitmenschlichkeit, Anteilnahme und Gerechtigkeit gegangen sei, und von Jesus und von vielen anderen, seither zur Kultfigur dieser oder jener Sekte gemachten Gestalten lässt sich vielleicht ähnliches sagen. Ich will hier nicht weiter darüber sinnieren. Ich wollte Euch nur erzählen, wie schön es war, während der Dämmerung um diesen Tempel zu gehen ohne irgend etwas zu wollen ... keine Erkenntnis, keine Frage, keine Theorie, keine Statue. Amie ging es offenbar ähnlich, denn auch sie ging nicht hinein. Stattdessen habe ich meine Souvenirsammlung durch ein kleines Modell des Mahaboditempels in Bodh Gaya ergänzt, eine schöne Steinarbeit und ein schönes Andenken an einen guten Moment.

Bodh Gaya war überhaupt gut. Wir sind zwar wieder mehr als wir wollten in der Subkultur der WesttouristInnen hängen geblieben, ein Problem, mit dem wir schon in Varanasi zu tun hatten: man trifft sich, geht zusammen essen, freundet sich an, spricht über die verschiedenen Reiseerfahrungen, über die weiteren Pläne, über politische oder philosophische Dinge. Alles sehr angenehm, sprachlich und kulturell ist man sich meist viel näher als den Einheimischen, mit denen man als Tourist normalerweise in Berührung kommt, doch plötzlich stellt man fest, dass man nicht mehr in Indien, sondern in irgendeiner halbrealen Zwischenwelt ist. Da ist das Geklingel der Byciclerikshas, da ist das Gehupe ihrer motorisierten Rivalen, da sind die auf der Erde sitzenden BettlerInnen, doch da ist auch Martha und Sandra aus Spanien, da sind ihre Erfahrungen mit dem Meditieren, da ist Mojji, der Wahrheitssucher aus Jamaika, da ist Alexander aus Polen und seine Gedanken zum Sufismus und der Rolle, welche die Musik in der Tradition der Sufis spielt. Da sind meine Ideen zum Thema Musik und Musiktherapie, da sind meine Gedanken zum Thema Religion und Wissenschaft, und Indien, zumindest das konkrete, auf der Strasse sicht- und erlebbare Indien scheint sich plötzlich in nichts aufzulösen. Es ist wie gesagt ein Phänomen, das ich während meiner Reiserei öfter beobachtet habe. Ich suche das Fremdartige, doch zugleich vermisse ich das Vertraute, und wenn ich es finde - bei den erwähnten WesttouristInnen oder auch bei sogenannt gebildeten Einheimischen - dann sauge ich es auf bis ich beinahe wieder zu Hause an der Ramsteinerstrasse bin und "Indien" nur noch belanglose Kulisse ist. Es ist angenehm - war auch in Bodh Gaya angenehm -, doch zugleich geht damit auch das besondere Etwas verloren, welches das Reisen und die Fremde für mich so anziehend machen.

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"How can you trust, if you don't trust".
Annäherung an die Friendship Makers

Unsere Friendship Makers vom ersten Tag erinnerten uns glücklicherweise immer wieder daran, dass wir tatsächlich in Indien waren, und zwar nicht in einem abstrakten, nur gedachten, sondern in einem sehr konkreten Indien. Die "Boys", wie Amie und ich die drei Jungen bald nannten, tauchten während unseres Aufenthalts in Bodh Gaya alle paar Stunden bei uns auf. Sie waren überzeugt davon - und hatten damit natürlich auch recht -, dass wir irgendwann etwas kaufen wollten, einen Sari vielleicht oder einen Teppich, eine Mala (d.h. Gebetskette) oder sonst etwas. Im übrigen schienen sie, wie Beat gesagt hatte, Zeit zu haben. Viel Zeit. Sie tauchten auf, wenn wir am Frühstück sassen oder wenn wir zur Post wollten. Sie waren immer da, zunächst zu dritt, dann, nach einem oder zwei Tagen, nur noch zu zweit, hilfreich, gut gelaunt, aufmerksam. Sie kamen mir vor wie die Fliegen ums Honigbrot, wobei ich dieses Bild nicht mochte und auch jetzt nicht mag, denn es sind doch keine Fliegen sondern Menschen, wenn ich auch keine Ahnung habe, was in ihnen vorgeht, weshalb sie so viel Zeit mit uns verbringen und sich von unserer relativ zurückhaltenden Art nicht entmutigen lassen. Das blosse Interesse an uns konnte es nicht sein. Vielleicht Langeweile? Vielleicht die Hoffnung auf ein paar hundert Rupien für ihre ungefragten Helferdienste? Bisher hatten sie jedoch nichts von "commission" oder "bakshish" gesagt. Dafür tauchten nach und nach andere mögliche Motive ihres Interesses für uns auf:

Mintu sprach über das 10. Schuljahr, welches er wegen Geldmangels vermutlich nicht absolvieren könne. Bisher habe seine Mutter das Geld für die Privatschule - 150 Rupien, also etwa Sfr 4.20 pro Monat - aufbringen können, doch im 10. Schuljahr beträgt das Schulgeld 250 Rupien. Dazu kommen die Kosten für Bücher und schliesslich braucht er auch eine neue Schuluniform: Saubere Schuhe, dunkle Hosen und ein weisses Hemd - hier wie in vielen anderen Ländern dieser Erde durchaus üblich. Mintu ist klein und mager. Seine Hände sind rauh von der Hausarbeit und vom Holzhacken, wie er sagt. Er scheint intelligent. Er weiss was er will. Er lacht selten. Im Gegenteil, er hat etwas Bedrücktes, Verschlossenes an sich. Wenn er dennoch einmal lacht, ist es wie wenn die Sonne plötzlich durch eine dicke Wolkenschicht bricht. Als wir einmal für fünf Minuten allein sind, erzählt er mir von seinem Vater: Nein. Er lebe wohl noch. Er wisse nicht wo. Er sei vor ein paar Jahren weggegangen. Nein. Er vermisse ihn nicht. Er sei ein schlechter Mensch gewesen, ein Gauner. Nein, gearbeitet habe er nicht. Nein. Auch die Mutter vermisse ihn nicht. Er habe sie geschlagen. Jetzt sei er fort. Nein. Seinen Freunden erzähle er dies nicht, denn ja, Scheidung und so, das sei in Indien immer noch eine Schande. Er sage, der Vater sei fort zum Arbeiten. Das kennt man hier. Die Väter sind oft monatelang weg, in Delhi oder Kolkata oder einer anderen wirtschaftlich stärkeren Region des Landes. Nein, seine Mutter arbeite, aber sie habe dauernd Schmerzen. Ja, in den Gelenken. Rheuma? Er wisse es nicht. Auch er habe manchmal Schmerzen, vor allem in den Händen, aber nicht so stark wie seine Mutter ... Ich denke an Beats Warnungen vor den professionellen Freundschaftmachern. Sind das jetzt die Geschichten, mit denen wir eingeseift werden?

Vicky, von dem am Rande bereits mehrmals die Rede war, will Medizin studieren, um später eine Klinik für die Armen eröffnen zu können. "It is my dream. I want to help the poor, but how can I do without money?". Er habe das 10. Schuljahr abgeschlossen, doch das College (11. und 12. Schuljahr) sei zu teuer. 3000 Rupien pro Monat (rund 90 Franken) ist eine Summe, die er und seine Familie unmöglich aufbringen können. Wie unzählige andere junge Inder hofft auch er deshalb, einen Sponsor zu finden, irgend einen Menschen aus dem Westen, mich odr Amie oder sonst jemanden. Es ist im Grunde egal.

All das kommt nach und nach zu Tage während wir uns tibetische Teppiche ansehen oder den Stoff für das Kleid aussuchen, welches Amie sich schneidrn lassen will, um nicht immer in denselben Hosen herumgehen zu müssen. Ich lasse mich bewusst nur halb auf dieses verkappte Bitten und Betteln ein. Zum einen bin ich Mintu und Vicky gegenüber noch immer etwas misstrauisch. Zum anderen misstraue ich auch der Schnelligkeit, mit der mein Helferimpuls zur Stelle ist. Stattdessen versuche ich mit Mintu und Vicky eine Art Interview über ihre Erfahrungen mit den "Westerners" zu machen, regelrecht, mit Kassettengerät und allem drum und dran, damit sie wissen, dass ich wirklich etwas von ihnen hören will. Der Versuch ist nicht sehr erfolgreich, doch es ist immerhin ein erster Schritt in der richtigen Richtung.

Ich versuche über das Zwiespältige unseres Verhältnisses - Freundschaft und Geld - zu sprechen, doch ist das offensichtlich schwierig. Vielleicht zu abstrakt für die beiden, vielleicht auch eine Art Tabuthema. Mintu ist ziemlich schweigsam, und Vicky kommt immer wieder auf konkrete Dinge, auf seinen Traum des Medizinstudiums oder auf den von uns ins Auge gefassten Besuch einiger ausserhalb Bodh Gayas gelegenen Höhlen zurück. Er besteht darauf, uns dorthin zu begleiten, da die Gegend zu unsicher sei. "Bad people. Many begger. Too much dangerous". Ich erzähle von dem Agenten des Reisebüros in Varanasi, der uns die unglaublichsten Stories erzehlt hat, nur um uns dazu zu bewegen, per Taxi, statt per Zug von dort nach Bodh Gaya zu fahren. Vicky begreift. "So you don't trust what I say?", dann bringt er das Problem auf den Punkt: "How can you trust, if you don't trust?" Ich versuche es noch einmal mit meinem grundsätzlichen Anliegen. Ich erkläre Mintu und Vicky, dass ich ihnen vermutlich eher vertrauen würde, wenn ich genau wüsste, was sie für ihre Hilfsbereitschaft erwarteten. Doch komme ich mit meinem Versuch nicht weiter. Die von mir praktizierte Tugend der Offenheit wirkt auf die beiden offenbar eher als Taktlosigkeit. "If you want to give, you give. If not, no problem" ist die einzige Antwort, die ich von den beiden erhalte.

Wie gesagt, das "Interview" verläuft eher zäh. Am Ende habe ich den Eindruck, die Beiden (und vielleicht auch mich selber) mit meinem Anliegen etwas überfordert zu haben. So schnell lässt sich dieses Gewirr von eingeübten Rollen, kulturellen Vorannahmen und Verhaltensweisen, widersprüchlichen Interessen und Motiven nicht entwirren. Das braucht Zeit und grösseres gegenseitiges Vertrauen.

Als wir uns einige Stunden später von Mintu und Vicky verabschieden und ihnen erklären, dass wir am nächsten Tag von morgens früh bis am Abend weg seien - wir hatten uns für eine eintägige Einführung in die Praxis des tibetischen Budhismus angemeldet -, fragt Vicky denn auch noch einmal: "What about my dream, uncle, will you help?" Ich bin etwas enttäuscht, dass unser "Gespräch" am Nachmittag nicht mehr gebracht hat, doch ich muss mich wohl damit abfinden, dass er nicht an abstraktem Erkenntnisgewinn à la mode de Martin interessiert (und dazu vielleicht auch nicht fähig) ist, sondern dass er ein Problem hat, das er gerne lösen möchte und zwar möglichst bald. Ich sage ihm deshalb, dass ich mit ihm und Mintu noch einmal gründlich über ihre Angelegenheit sprechen möchte. Wir vereinbaren, uns am übernächsten Tag um halb neun im Ohm-Restaurant, einem meiner bevorzugten Frühstücksplätze, zu treffen.

Von dem erwähnten Seminar will ich hier nicht viel schreiben, denn dieser Bericht gerät schon jetzt aus allen Fugen. Am Ende des Tages (es war der 9. Januar, ein Sonntag, sonnig und warm wie die meisten Tage hier) war ich nicht nur ziemlich k.o.; ich hatte auch das Gefühl, dass mein Interesse für religiöse Fragen mit diesem Tag vorerst einmal aufgebraucht war, und ich mich - nicht zuletzt aus psychohygienischen Gründen - dringend einem anderen Thema zuwenden müsse. Ich hatte schon in Pakistan ein paar Schulbesuche gemacht, und ich nahm mir vor, dieses unsystematisch begonnene Projekt während der noch verbleibenden Zeit in Indien erneut in Angriff zu nehmen. Doch vorerst stand "Sozialarbeit" an.

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HELFEN - WIE UND WARUM?

Wie vereinbart stiessen Vicky und Mintu am Montag Vormittag zu mir, als ich vor dem Ohm-Restaurant am Frühstück sass, während Amie irgendwo in der Nähe des Mahabodhi Tempels meditierte. Es war ein wenig so, wie ich mir die öffentliche Aufsteherei von Ludwig XIV vorstelle: Noch halb im Bett entscheidet er über das Schicksal der Bittsteller, die ihn hoffend und bangend umlagern. Ich weiss allerdings nicht, ob Ludwig sich damals so viele Gedanken über die ihm gegebene Macht und ihren möglichen Missbrauch gemacht hat wie ich. Er war ja immerhin gelernter König, und dieses Schicksalsielen gehörte zu seinem Alltag wie die Krone und die vielen Diener, während es für mich etwas ganz neues war.

Ich sprach zuerst mit Mintu. Seine Situation schien mir einfacher, überschaubarer. Wir einigten uns darauf, dass ich zuerst mit ihm die Schule besuchen würde, in die er bis im Dezember gegangen war, um mit dem Schulleiter zu sprechen, um sicher zu sein, dass dieser ihn tatsächlich in die 10. Klasse aufnehmen würde und um mit ihm auch noch einmal über die genauen Kosten zu sprechen. Danach wollten wir Mintus Mutter aufsuchen. Wenn alles klar war würde ich ihr das fehlende Geld geben. Dies schien die beste Möglichkeit, auch wenn dabei immer ein gewisses Risiko besteht, dass das Geld für irgend einen familiären Notfall ausgegeben wird oder werden muss - die Medizin für einen entfernten Onkel, die Hochzeit einer Nichte, die Reparatur der häuslichen Wasserleitung oder weiss Gott was. Dies hat nichts mit mangelndem Willen oder Verantwortungsgefühl zu tun. In so einem Fall "nein" zu sagen ist in Indien und anderen Drittweltländern ganz einfach unmöglich oder zumindest viel viel schwieriger als bei uns, denn es ist hier (auch in scheinbar progressiven, westlich orientierten Familien) noch immer selbstverständlich, dass man einem Familienmitglied hilft, wenn dieses in Not ist. Dass man eine bestimmte Summe Geldes eigentlich für die Ausbildung des Sohnes brauchen wollte zählt in solchen Momenten nicht. Ein derart abstraktes, auf irgendeine langfristige Planung bezogenes Argument wird vielmehr als ganz unverständlich und als reine Ausrede empfunden.

Mintu bestätigte meine Bedenken, meinte aber, dass sie in seinem Fall nicht zutreffen, da sie in Bodh Gaya keine Familie hätten und seine Mutter wirklich wolle, dass er in die Schule gehe. Ich könne ihr deshalb 100% vertrauen. Tatsächlich hat die Frau ihren Jungen ja auch während der letzten vier oder fünf Jahre in diese Privatschule geschickt und die Kosten dafür aufgebracht. Warum sollte ich ihr also weniger trauen als irgendeiner Drittperson oder einer noch zu findenden Institution. Ich sagte also zu.

In Vickys Fall waren meine Bedenken grösser: Ein Medizinstudium ist ja wohl auch in Indien nicht gerade ein Klacks. Was wusste Vicky über das Funktionieren einer Uni? Wo würde er im Notfall moralische Unterstützung oder sachliche Beratung kriegen? Wo wollte er studieren? Wie ist es überhaupt mit der Zulassung zum Studium? Gibt es da Einschränkungen? Und wie stellte er sich den Arztberuf eigentlich vor? Hatte er je ein Spital von innen gesehen? Welches und wie stark waren seine Motive für diese Berufswahl? Solche Fragen waren mir während des Wochenendes durch den Kopf gegangen, und darüber sprach ich jetzt mit ihm. Dabei hatte ich bald das deutliche Gefühl, dass sein Berufswunsch eigentlich "nur" ein Traum war, eine Idee, die ihm gefiel, ohne dass er sich je ernstlich damit befasst hatte, was das Arztwerden und das Arztsein konkret bedeuteten. "I can do, because I want to help the poor" sagte er immer wieder, wenn ich ihn nach seiner Motivation oder seiner schulischen Leistungsfähigkeit fragte. Ich schlug ihm deshalb vor, die ganze Sache mit jemandem zu besprechen, der sich im indischen Ausbildungswesen auskennt und besser als ich beurteilen kann, wie realistisch sein Studienwunsch sei. Dieser Mensch könnte allenfalls auch als Mentor und Anlaufstelle und als Geldverwalter dienen, wenn ich nicht mehr im Lande wäre, denn Vickys Eltern, die beide kaum lesen und schreiben können, wären mit einer solchen Aufgabe überfordert. Vicky begriff lange nicht, weshalb ich dies wollte, stimmte aber schliesslich zu, als Mintu einen Arzt nannte, den beide kennen und dem sie offenbar auch beide vertrauen.

Nach diesem Gespräch machten wir uns auf den Weg: Zuerst zu Mintus Schule und dann zu seiner Mutter, die in einem 2 km von Bodh Gaya entfernten Dorf in einem anderen Haushalb arbeitet. Anschliessend lud Vicky uns zum Mittagessen ein. Er lebt im selben Dorf oder Ortsteil wie Mintu und die beiden kennen sich seit sie kleine Kinder waren.

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Von Häusern, Betten und Löffeln

Bei Vicky erhielt ich einen ersten Eindruck davon, wie "durchschnittlich arme" Menschen in Indien leben. Die Wohnung der Familie besteht aus zwei Zimmern. Im ersten ist gerade genügend Platz für ein Doppelbett, inwelchem Vicky, sein Bruder, seine Schwester und sein Vater schlafen. Auf einem fest in die Wand eingegipsten Regal lagen eine billige Sonnenbrille und ein Stapel verstaubter Papiere. Sonst schien es in dem Raum nichts zu geben. Im zweiten Zimmer standen zwei Betten: eines für die Schwiegertochter und für die Mutter. Im anderen schläft der Rest der 9köpfigen Familie. Auch dieser Raum schien mir sonst kahl. Die meisten Häuser gleichen hier überhaupt eher einer schnell hingebauten ein- oder zweistöckigen Notunterkunft im Stile unserer Garagen. Zementwände, oft grau in grau, dazu Metalltüren mit Vorhängeschlössern und einfache Fenster. Diese sind oft vergittert. Farben oder sonstiger Schmuck sind selten. Zwar sind nicht alle Gebäude so vergammelt und primitiv, wie das Sunny Guest House in Delhi, von dem ich Euch geschrieben habe, aber auch neue, an sich ganz akzeptable Häuser sind selten gemütlich in unserem Sinn. Dies beginnt übrigens bereits in der Türkei, und es scheint ja zumindest ein Stück weit auch für Süditalien und andere Teile Südeuropas zu gelten. Natürlich gibt es auch hier Ausnahmen, z.B. die Häuser aus ungebranntem Lehm, welche ich in einem Dorf in der Nähe Santiniketans gesehen habe oder auch das Holzhaus, in welchem wir in Sikkim übernachtet haben. Doch ich schweife ab und greife vor. Noch sind wir in Bodh Gaya zu Besuch bei Vicky und seiner Familie.

Von dieser erweist sich vor allem der 3-jäherige Neffe als sehr zutraulich, nachdem er seine erste Scheu vor meiner weissen Haut und vielleicht auch vor meinen weissen Augen abgelegt hat. Wir unterhielten uns vor dem Essen ausgiebig mit allerlei Tierlauten und sonstigem Gegrunze, wobei er als Löwe mindestens ebenso laut und furchterregend brüllte wie ich. Zwischendurch rannte er lachend auf die Strasse, um seinen kleinen Freunden vorzuführen, was wir eben ausprobiert hatten. Beim Essen war er nicht mehr von der Partie. So wie ich es erstmals bei Martin in der Osttürkei und danach bei Zahid in Islamabad erlebt hatte, scheint es auch hier üblich, dass die Kinder zusammen mit den Frauen für sich essen, wenn Besuch da ist.

Wir assen auf dem Bett sitzend, das Essen vor uns auf einem Hocker. Das war möglicherweise eine Konzession an den besonderen Gast, denn ärmere Menschen essen in Pakistan wie in Indien meist auf der Erde. Auch das verwendete Besteck ist eine Frage der sozialen Stellung: Arme Menschen essen durchweg mit den Fingern, es sei denn, es gibt Suppe oder sonst etwas allzu flüssiges oder allzu schlüpfriges. Dann kommt ein Löffel zum Einsatz. Ausgiebiges Schmatzen und Grunzen und Fingerlecken gilt im übrigen vor allem in ungebildeteren Schichten als urtümliches Zeichen dafür, dass es einem schmeckt. Meine "guten Manieren" werden damit je nach Situation plötzlich zum Problem, denn wer unsere westlichen Standards nicht kennt, interpretiert unseren Mangel an Fingerlecken und Schmatzen unwillkürlich als Zeichen dafür, dass es mir nicht schmeckt. Das dachte vielleicht auch Vickys Mutter; sie stand in der Türe und schaute uns zu, während Vickys Schwägerin auftrug. Das Essen - Tschapati mit irgend einem scharfen Gemüse und Linsensuppe - war im übrigen wirklich lecker.

Wo und auf welche Weise bei Vickys zu Hause gekocht wird weiss ich nicht. Auch ihr Bad und ihr Klo (falls überhaupt vorhanden) habe ich nicht gesehen. Wie so oft auf dieser Reise habe ich erst später gemerkt, dass ich dies eigentlich auch gerne gewusst hätte. Im Augenblick selbst war ich zu gehemmt und vielleicht auch zu sehr mit anderen Dingen beschäftigt, um meine "Inspektion" der Wohnung auf diese Bereiche auszudehnen.

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Einen Sancho Panza an meiner Seite -
warum eigentlich nicht?

Die Idee, gemeinsam durch Indien zu Reisen, STAMMT von Vicky. Als er gegen Ende unserer Bodh Gayaer Tage hörte, dass Amie bald in die USA zurückfliegen würde, und ich danach allein noch ein paar Wochen durch Indien reisen wollte, empfand er dies offenbar als ziemlich absurd. "How can you do" fragte er lachend und entsetzt zugleich, und schlug dann vor, mich während dieser Zeit zu begleiten. Ich war von der Idee zunächst nicht besonders angetan, denn das alleine Unterwegssein bedeutet nicht nur Stress; es steckt auch ein besonderer Reiz darin, der verloren geht, sobald ich mit jemandem reise. Dabei sind der Stress und der Reiz so etwas wie die zwei Seiten derselben Medaille. Doch abgesehen davon: wie würden Vicky und ich miteinander auskommen? Wie würde es sein, mit jemandem durch die Gegend zu reisen, der vielleicht nur deshalb mit mir unterwegs ist, weil er jeden Tag hundert Rupien (ca. 3 Franken) verdient oder weil er hofft, dass ich ihm am Ende doch noch sein Medizinstudium finanzieren würde? Das mit dem Medizinstudium war für mich zu diesem Zeitpunkt zwar bereits so gut wie erledigt, denn als Mintu ein Gespräch mit dem weiter vorne erwähnten Arzt organisiert hatte, sagte Vicky, dass ein solches Gespräch nicht nötig sei, dass er sein Studium schon allein schaffen würde ... Doch wenn die Idee für mich damit auch tot war, so würde er doch weiter auf mich als Sponsor für dieses oder ein anderes Projekt hoffen, während ich vor allem an einem neugierigen Reisegefährten interessiert war. Andererseits fand ich den Gedanken, Tag und Nacht eine Art Knappen oder Privatsekretär oder Kammerdiener bei mir zu haben sehr reizvoll, und das Zusammensein mit Vicky war bisher eigentlich ganz vergnüglich gewesen - weshalb also nicht ja zu einem Experiment sagen, das ich mir in der Schweiz nie leisten könnte.

Als ich Vicky am folgenden Tag traf, war er noch immer interessiert. Er habe seine Eltern gefragt, und sie seien einverstanden. Ich sei, so habe seine Mutter nach meinem Besuch gesagt, ein guter Mensch. Als wir Bodh Gaya am 13. Januar verliessen, waren wir deshalb zu dritt. Amie fuhr zurück nach Delhi, und Vicky und ich begleiteten sie bis nach Varanasi.

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Die indische Eindrittelgesellschaft

Ich hatte in Bodh Gaya zwei Tage zuvor die von Lama Thubten Yeshe (1935 - 1984) inspirierte Maitreya School besucht, wodurch mein Interesse an der Frage neu erwacht war, wie sich unsere auf Faktenlernen ausgerichtete westliche Erziehung mit einer Erziehung verbinden lässt, die (wie z.B. die mönchische Erziehung der Buddhisten) eher auf die Entwicklung bestimmter menschlicher Werte und auf die Einübung einer bestimmten Haltung ausgerichtet ist. Ich wollte deshalb auch die Krishnamurtischule von Benares kennenlernen, zu deren Besuch es Amie und mir während unseres Aufenthalts in Varanasi nicht mehr gereicht hatte.

Vicky und ich hatten uns am Donnerstag Abend bei der weiter vorne bereits erwähnten geizigen Frau Devu eingemietet. Am Freitag Vormittag fuhren wir per Autorikscha hinaus zu der Schule, von der ich erstmals gehört hatte, als ich vor etwa 10 Jahren eine Ausgabe von "Endlich" zur Krishnamurti-Pädagogik zusammengestellt habe. Sie ist Teil des am Rande Varanasis unmittelbar am Ganges gelegenen Rajghat Education Centre. Leider hatte der Mensch, mit dem ich mich zwei Tage zuvor telefonisch FÜR EIN Interview verabredet hatte, vergessen, dass dieser Tag, der 14. Januar, ein Feiertag war, und er deshalb nicht in der Schule sein würde. Nach anfänglicher Verwirrung fand sich jedoch eine Lehrerin, die nicht ausgeflogen war, und die sich Zeit nahm, mir ausführlich über das Innenleben dieser "alternativen" Internatsschule zu erzählen. Ich erspare Euch und mir die Details. Vielleicht schreibe ich bei anderer Gelegenheit einmal darüber. Was ich über die Schule hörte klang ... naja mässig interessant, alles in allem kein jugendlich radikales Projekt, sondern eine solide, zwischen Elternwünschen, pädagogischen Idealen und staatlichen Vorschriften sich bemühende Institution, ein Projekt der Mittel- und Oberschicht für die Kinder der Mittel- und Oberschicht. Von der Lehrerin - einer frisch aus dem Süden (Kerala) nach Varanasi gezogenen, sehr kritisch denkenden, wachen Frau - war ich dagegen sehr beeindruckt. Sie stimmte meiner Einschätzung ihrer Schule im wesentlichen zu. Die Schule sei in vielem ausgezeichnet, doch pädagogisch wirklich progressiv sei sie nicht. Das hänge vielleicht auch mit der indischen Gesamtsituation zusammen. Man sei hier immer noch vor allem damit beschäftigt, ein einigermassen akzeptables Schulsystem auf die Beine zu stellen. Dabei sei das Interesse an pädagogischen Alternativen zur konventionellen Schule naturgemäss relativ klein. Man sei einfach noch nicht dort. Das spüre natürlich auch eine Schule wie die ihre. Wenn, dann würden sie als "gute Schule", nicht als Alternative zum üblichen Schulbetrieb wahrgenommen. Damit fehle es ihnen oft an Anregungen bei der Umsetzung der pädagogischen Grundsätze Krishnamurtis.

Über dem Gangesufer stehend sprachen wir eine Stunde lang sehr angeregt über diese Dinge und über hundert andere Aspekte des indischen Lebens, wobei ich versuchte, ein paar weitere Teile des grossen Puzzles, an dem ich hier andauernd baue, zusammenzufügen. Dabei merkte ich wieder einmal sehr deutlich, wie einseitig meine bisherigen Indienerfahrungen sind: Nicht nur, dass ich bis anhin nur den allgemein als weniger entwickelt geltenden "cow belt", d.h. nördlich der Linie Delhi-Kolkata gelegenen Teil Indiens bereist habe. Ich hatte bisher auch kaum Kontakte mit der heutigen, städtisch geprägten Mittel- oder Oberschicht Indiens. Stattdessen hatte ich bisher vor allem mit "einfachen Menschen", kleinen Hotelangestellten, Bettlern, Rikshafahrern, Kellnern und Jugendlichen zu tun, die mit irgendwelchen mehr oder weniger einträglichen Geschäften über die Runden zu kommen versuchen. Alles in allem sind es Menschen, die sich kaum für irgendwelche grossen, abstrakten Fragen interessieren. Sie leben - mehr oder weniger zufrieden oder unzufrieden - ihr meist ziemlich kleines, begrenztes Leben. Dies ist jedenfalls mein Eindruck, denn da die Englischkenntnisse der durchschnittlichen Inder sehr beschränkt sind, ist ein differenziertes Gespräch über ihr Leben und das, was sie darüber denken, nur sehr selten möglich. Immerhin wird hier auch von "offizieller Seite" darüber gesprochen, dass Indien heute im Grunde eine zweigeteilte Gesellschaft sei: Ein Drittel der InderInnen hat den Anschluss an die moderne geschafft. Es sindMenschen mit ordentlichem bis gutem Einkommen, mit einer guten bis sehr guten Ausbildung, Menschen mit guten Perspektiven auf dem Arbeitsmarkt, Menschen, die zum Teil im Ausland studiert oder dort gearbeitet haben. Die restlichen zwei Drittel der indischen (und der pakistanischen) Bevölkerung haben diesen Anschluss verpasst. Sie leben - nicht selten unter unvorstellbar harten Bedingungen (Kinderarbeit, Leibeigenschaft), - zum grössten Teil unter dem Existenzminimum, können kaum lesen und schreiben, oder sie können mit ihrer "Schulbildung", wenn sie eine haben, nichts anfangen, weil die Schulen - wenigstens die sogenannten "gouvernment schools", also die Staatsschulen - hier so schlecht sind, dass sogar ein so entschiedener Schulkritiker wie ich plötzlich vom Segen einer guten Schule mit gut ausgebildeten (und bezahlten) LehrerInnen zu träumen beginnt. Doch wie gesagt, neben diesem Indien gibt es auch das aufgeschlossene, moderne Indien, dem ich bisher noch kaum begegnet bin; neben dem insgesamt eher rückständigen Norden gibt es den Süden, neben Bundesstaaten, die wie Bihar, dem Staat, in dem Bodh Gaya mit seinem berühmtn Tempel liegt, in der Korruption versinken, gibt es Staaten wie das während Jahrzehnten kommunistisch regierte Kerala, wo Sangitta, die Lehrerin der Krishnamurtischule, die mir von alle dem erzählt, aufgewachsen ist - "one generation ahead compared to the Rest of India", wie sie sagte.

Wie sagt man: Die Katze kann das Mausen nicht lassen. Ich möchte an dieser Stelle deshalb etwas von dem erzählen, was ich während meiner mehr oder weniger spontanen und zufälligen Besuche in pakistanischen und indischen Schulen und im Verlauf einiger Gespräche zu dem Thema gehört und mitbekommen habe. Es sind auch hier Impressionen, erste Eindrücke, Teile eines Puzzles - eines Puzzles, das mich im übrigen häufig an das erinnerte, was ich übr die schweizerischen oder deutschen Schulen des 18. und 19. Jahrhunderts gelesen habe. Vieles scheint bei uns damals ganz ähnlich gewesen zu sein, wie es jetzt in Indien oder Pakistan ist.

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Exkurs: Pakistanisch indische Schulimpressionen

Bereits in der Türkei fiel mir auf, wie gering das Vertrauen der Menschen in die staatliche Volksschule ist. Sali, der PR-Mann der Kelim- und Teppichkooperative in Gürümer erzählte mir, dass er einen guten Teil seines Gehaltes in die Erziehung seines siebenjährigen Sohnes stecke. Dieser gehe in eine Privatschule, die zwar relativ teuer, aber dafür auch gut sei. Damit habe er später eine echte Chance auf ein besseres Leben. Natürlich: die staatliche Schule gäbe es und sie sei kostenlos, doch dort lerne man nichts, und die Chancen, später jemals weiter zu kommen, raus aus der Armut, seien gleich null.

In Pakistan sind die Probleme noch gravierender. Vor allem bei den Mädchen ist der Analphabetismus hoch, und vor allem ländliche Schulen sind, wenn es überhaupt welche gibt, sehr ärmlich eingerichtet. Fara, eine mit Zahid befreundete Lehrerin, die ich in Islamabad kennenlernte, bestätigte mir, dass das Niveau der staatlichen Schulen in der Regel tatsächlich erschreckend tief sei. Auch die methodisch-didaktische Ausbildung der Lehrkräfte sei äusserst mangelhaft. Stundenlanges Auswendiglernen irgendwelcher Schulbuchtexte und Frontalunterricht sei das dominierende Modell, nach welchem die Mehrheit der Schulen funktionieren. Natürlich würde in der Schule oft geschlagen, erzählt Zahid, den ich nach seinen Schulerfahrungen frage. "We even had to go out and get new rods for our teacher, when he had used up his supply" sagt er und amüsiert sich über meine ungläubige Reaktion. "Of course they hit", erzählt Vicky ein paar Wochen später als ich mit ihm über seine Schulzeit spreche. Solche Bestrafungs- und Disziplinierungsaktionen habe ich bei meinen zum Teil recht kurzen Besuchen in ungefähr einem Dutzend verschiedener Schulklassen nicht erlebt. Unübersehbar war dagegen die Dominanz von Auswendiglernen und Frontalunterricht.

Diesbezüglich am extremsten war eine Klasse von rund fünfzehn zwölf- bis dreizehnjährigen Mädchen, die den Kern der im Aufbau befindlichen Mädchenschule von "Living Education", dem pakistanisch schweizerischen Entwicklungsprojekt ausserhalb Islamabads, welches ich Anfang Dezember besucht hatte, bildete. Im Englischunterricht las die Lehrerin einen Dialog aus dem Sprachbuch vor, wobei sie keinerlei Rücksicht auf den Inhalt zu nehmen schien. Statt sich an Punkten und Kommas und dem Verlauf des Dialogs zu orientieren las sie immer eine oder zwei Zeilen, die dann von den Schülerinnen sehr präzise wiederholt wurden. Das klang dann etwa so: "Peter: Grandmother, please tell" - "Peter: Grandmother please tell" - "us something about the time when" - "us something about the time when" - "you were a child. Grandmother: Okay" - "you were a child. Grandmother: Okay" - "Peter. When I was a child the" - "Peter. When I was a child the" ...

Nach der Englischstunde hatten die Mädchen "Social Studies", also eine Art Gesellschaftskunde. Das Thema waren die frühen Religionen Asiens. Zuerst kamen die Hausaufgaben dran. Die Mädchen hatten ein paar Seiten aus dem Social Study Book auswendig lernen müssen und wurden jetzt einzeln geprüft. Die meisten ratterten ihren Text ohne Mühe herunter bis die Lehrerin unterbrach und die nächste Schülerin aufrief. Ein oder zwei Mädchen waren schwächer, d.h. sie verhaspelten sich gelegentlich oder gerieten ins Stocken. Ein Mädchen brillierte durch eine Lautstärke und Geschwindigkeit, von der selbst die Lehrerin beeindruckt schien. Dann übernahm sie das Szepter und las aus dem Social Study-Buch vor, wobei sie zwischendurch ein oder zwei erklärende Worte einfügte, ohne jedoch gross darauf zu achten, ob die Erklärung notwendig oder ausreichend war. Im Anschluss an die zwei Schulstunden beklagte sich die Lehrerin darüber, dass die Mädchen so schwer zu motivieren seien, vor allem im Englisch. An einem Gespräch über meine Eindrücke von ihrem Unterricht waren jedoch weder sie noch der Leiter von Living Education interessiert. Die Lehrerin betonte, dass sie auch in methodischer Hinsicht ausgezeichnet ausgebildet sei, dass sich auf Grund des an dieser armen Schule bestehenden Mangels an audiovisuellen Lehrmitteln aber einfach nichts machen liess ...

In einer Privatschule mittlerer Qualität (und Preislage) in Islamabad besuchte ich zwei Englischstunden, wobei die eine ähnlich verlief, wie die eben geschilderte. Die Lehrerin war meinetwegen vielleicht zusätzlich angespannt, jedenfalls lachte sie nie, schimpfte oft und wie ich fand weitgehend ohne Grund und verbreitete insgesamt eine ziemlich schlechte Stimmung. Ihr Englisch war zudem recht kläglich, was sie vielleicht zusätzlich unsicher machte. Als sie einmal nicht mehr weiter wusste und ein Schüler ihr das fragliche Wort voller Stolz in seinem Dixionär zeigte, winkte sie ab, scheuchte den Jungen an seinen Platz zurück und sagte: "The teacher will look it up at home and tell you tomorrow what is right". Die zweite Stunde verlief ganz anders. Es wurde viel gelacht, gefragt und geredet. Die Lehrerin, eine Frau aus Karatschi, der grossen Metropole im Süden Pakistans, stand vor der Klasse, liess ihre vielen Armringe klingen und neckte ihre Schüler und Schülerinnen, ermunterte sie, forderte sie heraus und hielt sie andauernd in sportlich freundschaftlicher Weise auf Trab. Innerhalb von 60 Minuten hatte ich an diesem Vormittag eine der deprimierendsten und eine der lustigsten (und Lust machendsten) Schulstunden meines Lebens erlebt.

Die unkritische Auswendiglernerei ist sicher eine der Aspekte der einfachen Schulen in Drittweltländern, die uns am meisten auffallen. Bei Abdal, meinem Gastgeber in Lahore, und bei seinen Freunden lernte ich die positive Seite dieser bei uns inzwischen kaum noch gepflegten Kunst kennen, denn die lustige Bande kannte nicht nur alle auf dem indischen Subkontinent jemals gedichteten Schnulzen, sie zitierten je nach Laune und Situation auch unendliche Passagen aus der klassischen englischen Dichtung, und dies nicht, um mit ihrer Bildung anzugeben, sondern aus Freude am Klang der Worte und aus Begeisterung für den besonderen Augenblick. Es spricht also einiges für eine Renaissance des Auswendiglernens, doch ist es hier wie überall: zuviel davon ist ungesund. Ein letztes, von dem ich hier noch reden möchte, ist der Nachhilfeunterricht oder das "tutoring". Die meisten SchülerInnen in Pakistan oder Indien besuchen das tägliche, in der Regel zwei bis drei Stunden dauernde, privat organisierte "Tutoring", welches vor oder nach der eigentlichen Schulzeit stattfindet, und wo der in der Schule behandelte Stoff noch einmal durchgenommen und vertieft wird. Auch sehr arme Familien versuchen, ihre Kinder trotz der Kosten zumindest zeitweise in dieses "Tutoring" zu schicken. Ohne Tutoring ist es sehr schwer, in der Schule befriedigende Noten zu erreichen, denn in ihrem regulären Unterricht erklären die Lehrer bestimmte Sachverhalte oft absichtlich nur lückenhaft oder überspringen bestimmte Teile des Unterrichtsstoffes ganz, um die SchülerInnen in den Nachhilfeunterricht zu zwingen und damit ihr in der Regel sehr kleines Gehalt aufzubessern. Die Methode hat ihre klare Logik: Weshalb soll ich etwas gratis abgeben, für das ich Geld kriegen könnte. Dieses Nachhilfewesen ist nicht nur in Indien und Pakistan beinahe allgegenwärtig. Es fiel mir vor einigen Jahren bereits in Tanzania auf und kürzlich berichtete der "Spiegel" über eine deutsche Studentin, die das Phänomen in Ägypten studiert hat. Zum Teil ist es den Lehrern zwar verboten, ihren eigenen Schülern und Schülerinnen Nachhilfeunterricht zu erteilen, doch das stört das Geschäft nur wenig, denn in diesen Fällen unterrichtet man eben die Kinder eines anderen Lehrers. Als ich mit Vicky über dieses doppelte System sprach brachte er die Sache auf den Punkt: "The school is not for learning. Its for the paper. Learning is only in the tutoring. But in the tutoring there is no paper."

Tutoring scheint überall selbstverständlich. Ein Student des Gaya College, einer Mischung von High School und Fachhochschule sagte mir, dass eine Ausbildung dort ohne Tutoring kaum zu schaffen sei; ähnliches hörte ich immer wieder. Die Abhängigkeit von diesem System des Tutoring ist vor allem für arme Familien ein Problem. Auch wenn sie ein wenig Geld dafür einsetzen können, so reicht dieses allenfalls für eine gelegentliche Teilnahme von einem oder zwei Kindern am Nachhilfeunterricht. Die Verbindung von verfügbarem Geld und Schulerfolg ist also längst nicht überwunden, obschon die staatliche Volksschule sowohl in Indien als auch in Pakistan offiziell kostenlos ist. Dass nicht mehr Kinder und Jugendliche versuchen, den Schulstoff mit eigenen Mitteln (mit Hilfe von Büchern und Freunden etc.) zu erarbeiten hat vermutlich weniger mit den Schwierigkeiten des Stoffes als mit der weiter oben beschriebenen starken Fixierung der SchülerInnen auf den Lehrer und mit dessen Image und Rolle innerhalb der Schule zu tun. Dass man als SchülerIn auch selbst aktiv werden und lernen könnte ist eine Vorstellung, die den meisten SchülerInnen (und LehrerInnen) in Indien oder Pakistan viel fremder zu sein scheint als hierzulande.

... Uff! Dieser Bericht ist lang geworden. Dabei gäbe es noch viel zu erzählen. Doch ihr habt Glück: Der alte Computer, auf dem ich seit drei Tagen arbeite, ist inzwischen definitiv an den Grenzen seiner Leistungsfähigkeit angelangt. Der Cursor bewegt sich kaum mehr vom Fleck, mein Jaws spricht, als ob es mindestens zwei Schlaganfälle hinter sich hat. Die Botschaft ist klar: 14 Seiten sind genug, jedenfalls für diesen PC und wahrscheinlich auch für die meisten von Euch. Deshalb Schluss für dieses Mal. Ich melde mich wieder - vielleicht schon bald, vielleicht erst in ein paar Wochen. Bis dahin lebt wohl und seid alle ganz, ganz herzlich gegrüsst! Morgen geht's zurück nach Kolkata, wo unter anderem der Besuch eines Blindeninstitutes und ein Gespräch mit einem Medienmenschen auf dem Programm stehen, doch davon und von allem anderen wie gesagt ein nächstes Mal. Für jetzt gute Nacht und good bye.

Martin Näf

© 2005 by Martin Näf, Basel
Erstellt am Mo, 28.08.06, 09:01:19 Uhr.
URL: http://anderssehen.at/alltag/reise/indien/5.shtml

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