Sie sind hier in:
Startseite / Alltag / Unterwegs / Mein Mobilitätstraining /

Mein Mobilitätstraining

Ich entschloss mich Anfang Jänner 1987, an einem Mobilitätstrainingskurs teilzunehmen. Schon der Entschluss dazu fiel nicht allzu leicht. Einige Jahre zuvor hatte ich während meiner Schulzeit am Bundes-Blindenerziehungsinstitut in Wien einen solchen Kurs besucht, in dem mich die Trainerin überfordert hatte und schließlich den Kurs abbrach, weil sie fand, dass ich zu langsame Fortschritte machte. Nach diesem frustrierenden Erlebnis ging ich nicht mehr allein auf die Straße. Durch den Entschluss zu einem solchen Training war der Weg noch lange nicht geebnet. Es musste die Finanzierung gesichert sein und ein Trainer gefunden werden.

Ende Juni waren dann glücklicherweise alle Schwierigkeiten aus dem Weg geräumt: man teilte mir mit, dass meine Teilnahme an einem Trainingskurs gesichert sei.

So sehr ich mich einerseits auch darüber freute, so unbehaglich fühlte ich mich andererseits. Dabei waren meine Erinnerungen an das Training vor einigen Jahren schon sehr verblasst. Gerade das erwies sich als sehr wichtig, denn wäre ich mir darüber im Klaren gewesen, was mich während des vierwöchigen Kurses erwartete, wie viele Hürden es für meinen Trainer und mich zu nehmen galt, bin ich mir nicht sicher, ob ich mich dann so sehr für ein Training eingesetzt hätte. Und das, obwohl ich mich von einer ständigen Begleitperson unabhängig machen wollte. Bislang waren es meine Eltern, die mich Morgens zur Arbeit gebracht und Nachmittags wieder abgeholt hatten. Ich hasste das Bitten und Betteln um jede Kleinigkeit und wollte nicht mehr so oft auf Dinge verzichten müssen, bloß weil niemand Zeit fand, mich zu begleiten. Mit einem Wort, ich wollte selbständiger werden und dafür auch hart arbeiten. Außerdem hatte ich vor, während des Trainings in eine eigene Wohnung in die Stadt zu übersiedeln. Meine Eltern wohnen nämlich etwas außerhalb. Mir kamen aber immer wieder Zweifel, ob ich den Anforderungen gewachsen wäre oder das Training wieder ähnlich unbefriedigend enden würde wie damals. Ich fürchtete einen neuerlichen Misserfolg und hoffte, dass ich mit dem Trainer besser harmonieren würde wie beim letzten Mal. Auch hoffte ich, dass dieser Trainer die nötige Geduld mit mir haben würde.

Schließlich traf ich mich mit Herrn Prof. Rainer, dem mir zugeteilten Mobilitätstrainer, zu einem ersten Kennenlernen. Wir unterhielten uns über das Trainingsziel und unsere Vorstellungen. Von meinem letzten Training her wusste ich, wie ein Mobilitätstraining aufgebaut ist und beherrschte bereits einige der Techniken. Außerdem hatte ich genaue Vorstellungen, was ich in den kommenden Wochen lernen wollte und musste. Wir sprachen auch über meinen ersten Misserfolg und die Angst vor dem neuerlichen Scheitern. Durch seine Ruhe und Offenheit wurde ich um einiges zuversichtlicher.

Mein Kurs, der wie alle Trainingskurse 60 Stunden umfasste, sollte, wie das bei Intensivkursen üblich ist, drei Wochen dauern. Das hätte jeden Tag vier Stunden Training bedeutet, was uns für den Anfang doch etwas zu anstrengend erschien. Deshalb beschlossen wir, den Kurs über vier Wochen zu erstrecken. Wobei in der ersten Woche an keinem Tag mehr als zwei Stunden angesetzt wurden, da ich nach meiner Arbeitszeit trainierte. Für die folgenden drei Wochen hatte ich um Dienstfreistellung angesucht, die mir mein Arbeitgeber freundlicherweise genehmigte.

Die Nervosität vor der ersten Stunde hielt sich, verglichen zu späteren Stunden, in Grenzen; Das lag wohl daran, dass ich mich von meinem ersten Kurs her noch recht gut erinnern konnte, was mich erwartete. Wir übten das Gehen in sehender Begleitung, was ich noch recht gut in Erinnerung hatte. Dann bekam ich meinen weissen Stock und spazierte mit ihm im Haus die Gänge entlang. Erst als Herr Rainer mir einen Kompass in die Hand drückte, um mit Himmelsrichtungen, die für mich völliges Neuland waren, zu arbeiten, schwand meine Sicherheit. Ich war keineswegs davon überzeugt, dass ich mit Wegbeschreibungen nach Himmelsrichtungen jemals etwas würde anfangen können, kam aber dann im Laufe des Trainings gut damit klar.

Tags darauf gingen wir daran, meine etwas vernachlässigte Pendeltechnik zu korrigieren. Man winkelt den Arm ab, stützt den Ellbogen in der Hüfte ab, und lässt den Stock locker vor sich herpendeln. Die Stockspitze ist ganz knapp über dem Boden. Der Stock sichert den nächsten Schritt ab. Macht man einen Schritt mit dem linken Fuß, befindet er sich vor dem rechten Bein. An diesen Rhythmus muss man sich erst gewöhnen. Anfangs stolpert man mehr über den eigenen Stock, als dass er einen schützt. Auch das Handgelenk muss sich erst an die Pendelbewegung gewöhnen.

Nachdem mein Bürogebäude auf Grund seiner schmalen Gänge keine geeignete Möglichkeit bot, die Pendeltechnik zu korrigieren, wagten wir uns in die Fußgängerzone, in welcher sich das besagte Gebäude befindet. Die vielen Menschen dort brachten mich innerhalb kürzester Zeit aus der Ruhe. Es war sehr anstrengend und konzentrationsintensiv sich einen Weg durch die Menschenmassen, wie es mir beim ersten Mal erschien, und sonstige, zahlreich vorhandene Hindernisse, zu bahnen. Ich war mehr damit beschäftigt auf meinen Stock, als auf mich oder die Pendeltechnik zu achten. Aber, es machte auch Spaß.

Die folgenden Stunden verbrachten wir in einem, mir fremden Gebäude, das es zu "erforschen" galt. Man lernt dabei, wie man sich am schnellsten und sichersten in fremder Umgebung orientiert. Ich übte die Pendeltechnik, die Himmelsrichtungen und das Gebäude war, da es auch Halbstöcke hatte, eine ziemliche Herausforderung.

Ab der achten Stunde war ich von der Arbeit freigestellt, was eine große Erleichterung war. Anfangs hatte ich vier Stunden täglich, wobei wir nach zwei Stunden eine dreistündige Pause einlegten. In den letzten beiden Wochen waren es dann "nur noch" drei Stunden täglich, die es zu bewältigen galt.

Die ersten vier Stunden verbrachten wir damit, mein Wohngebiet häuserblockweise zu erarbeiten. Dabei trainierte ich mein Gehör. Es galt Hauseingänge zu hören auf Passanten zu achten, und eventuellen Hindernissen auszuweichen. Als Nächstes standen Straßenüberquerungen auf dem Programm. Ich lernte, den Verkehr mit den Ohren zu beobachten und so den richtigen Zeitpunkt zum Überqueren einer Straße zu finden. Es ist gar nicht so einfach, gerade über eine Straße zu gehen. Deshalb ist es umso wichtiger, sich an der Gehsteigkante oder an Rillensteinen, falls vorhanden, auszurichten.

Ab der 15. Stunde begannen wir Wege einzuüben. Jede Bodenunebenheit verunsicherte mich in dieser ersten Zeit. Einfahrten zu Häusern hatten es nun einmal an sich, mich magisch anzuziehen. Auch brachte mich meine Pendeltechnik, die längst noch nicht so war, wie sie hätte sein sollen, zeitweise zur Verzweiflung. Manchmal spielte ich wohl mit dem Gedanken, mich wieder einer ständigen Begleitperson anzuvertrauen, nur, um mir das Herumtappen und das mühsame Suchen mit dem Langstock und diesen wahnsinnigen Konzentrationsaufwand zu ersparen.

So richtig Bauchweh und weiche Knie bekam ich allerdings erst bei unserer ersten ampelgeregelten Kreuzung. Da hatte es schon beim Training vor einigen Jahren Schwierigkeiten gegeben. Dabei hatte ich ansich keine Probleme, den richtigen Platz zum Überqueren zu finden, den Verkehr richtig einzuschätzen und somit zu wissen, wann rot und grün ist. Als es dann darum ging, eine ampelgeregelte Kreuzung ohne Hilfe des Trainers zu bewältigen, fühlte ich mich der Situation ganz und gar nicht mehr gewachsen und schaffte es einfach nicht, bei grün loszumarschieren. Weshalb, wusste ich selber nicht. Es flossen die ersten Tränen, und mir wurde bewusst, wie vieles ich noch zu lernen hatte. Herr Rainer ist mir, wie auch in allen späteren schwierigen, für mich manchmal ausweglos erscheinenden Situationen zur Seite gestanden. Das war sehr wichtig. Denn ich übte selber auf mich genug Druck aus, und hätte es nicht brauchen können, dass auch der Trainer drängt und ungeduldig wird. Er hat mich zum Weitermachen ermutigt und machte mir außerdem bewusst, dass es an uns beiden läge, ob ich das Training schaffte oder nicht. Er meinte, dass ich es schaffen könnte, wenn ich selbst es wirklich wollte und fest daran glaubte. Seine Zuversicht hat mich auch in allen späteren Situationen immer wieder aufzubauen vermocht. Von diesem Zeitpunkt an setzte ich mich noch mehr dafür ein, das Training möglichst erfolgreich abzuschließen. Dieses Mal wollte ich meinem Trainer und mir ein unbefriedigendes Ende des Kurses ersparen, denn schließlich ist ein Solches für beide nicht gerade ermutigend. Ich hätte mich nach einer erneuten Niederlage wohl zu keinem neuerlichen Versuch aufraffen können. Trotz aller guten Vorsätze sind ampelgeregelte Kreuzungen ein Horror für mich geblieben. Allerdings finde ich auch, dass nicht jeder Blinde alles allein bewältigen muss. Jeder hat seine Grenzen, und es gibt zum Glück immer wieder Mitmenschen, die einem weiterhelfen.

Nachdem wir dann Ende der zweiten Woche den richtigen Umgang mit öffentlichen Verkehrsmitteln übten, verbrachten wir die letzten beiden Wochen hauptsächlich mit dem Kennenlernen der Innenstadt, da sich mein Arbeitsplatz dort befindet. Außerdem lernte ich mich in einigen Geschäften so weit zurechtzufinden, um mir Hilfe zu organisieren. Auch erarbeiteten wir den Grazer Bahnhof, was mir sehr viel Spaß bereitete.

Herr Rainer ließ mich mehr und mehr selbständig gehen und beobachtete mich zumeist nur noch von der anderen Straßenseite aus. Doch allein die Gewissheit, dass er stets in der Nähe war, mich zurechtwies, wenn ich wieder einmal nachlässig geworden war oder auch eingegriffen hätte, wenn es gefährlich geworden wäre, beruhigte mich.

In den letzten beiden Stunden hatte ich mein Können vor meinem Trainer noch einmal unter Beweis zu stellen. Glücklicherweise lief bei der Route, die sich Herr Rainer für mich ausgedacht hatte, nichts schief. Nicht nur mein Trainer konnte sich über einen erfolgreichen Abschluss freuen, sondern auch ich war zufrieden. Schließlich waren die Trainingswochen doch eine Belastung gewesen. Immer wieder hatten sich Zweifel in mir geregt, ob ich das alles würde bewältigen können, und während der Nacht durchlebte ich immer wieder die schwierigen Situationen des Tages.

Nun lag es an mir, aus dem, was Herr Rainer mir auf meinen Weg mitgegeben hatte, etwas zu machen und keine Fehler einreißen zu lassen. Die ersten Tage, an denen ich meinen Arbeitsweg ganz allein zurückzulegen hatte, waren eine Umstellung. Da war nun niemand mehr, der einem sagte, dass er zufrieden sei oder dass man da oder dort besser hätte aufpassen sollen.

Jetzt bin ich schon eine ganze Weile allein unterwegs, habe sehr viel dazugelernt und möchte, auch wenn es oft sehr anstrengend ist, niemals mehr von einer ständigen Begleitperson abhängig sein. Manchmal kann ich es immer noch nicht so recht fassen, welch große Veränderung sich innerhalb dieser kurzen Zeit vollzogen hat, um wie vieles unabhängiger ich durch diesen Schritt geworden bin. Natürlich aber gibt es immer wieder Situationen, in denen ich der Hilfe sehender Menschen bedarf.

An dieser Stelle möchte ich ganz besonders meinem Trainer danken, denn ohne seine Geduld, sein Verständnis und sein Einfühlungsvermögen hätte ich es niemals geschafft. Gerade in all den Extremsituationen, denen man während des Trainings zweifellos ausgesetzt ist, gibt es nichts Wichtigeres als zu wissen, dass der Trainer einem zur Seite steht. Oft verzweifelt man als Schüler, da etwas einfach nicht gelingen will; wenn dann auch noch der Trainer die Geduld verliert, kann das all die Sicherheit und Zuversicht zerstören, die man sich im Laufe des Kurses mühsam aufgebaut hat. Ungeduld und das Überfordern eines Schülers haben leider schon manch erfolgreichen Abschluss eines Trainings verhindert.

Ich finde, es ist nicht wichtig, ob jemand nun das Trainingsziel erreicht oder nicht. Schließlich hat nicht jeder die gleichen Fähigkeiten. Außerdem ist noch kein Meister vom Himmel gefallen. Viel wichtiger hingegen ist meiner Meinung nach, welche Fortschritte der Einzelne in den ohnehin NUR 60 ihm zur Verfügung stehenden Stunden, erzielen kann. Für jemanden, der sich schwer tut, ist es schon ein großer Fortschritt, die Apotheke im selben Häuserblock selbständig zu finden.

Petra Raissakis

Twittern

© 2000 by Petra Raissakis, Graz
Erstellt am Do, 26.10.00, 08:01:19 Uhr.
URL: http://anderssehen.at/alltag/unterw/mob.shtml

Valid HTML 4.01!
 
Valid CSS!
 
Bobby WorldWide Approved AAA