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Tastbarer Stadtplan: Graz begreifen - mein Erfahrungsbericht

Haben Sie sich eigentlich schon einmal Gedanken darüber gemacht, wie es wäre, gäbe es keine Stadtpläne? Wohl kaum, denn man stößt überall auf sie und vermag sich, des Planlesens kundig, rasch einen Überblick zu verschaffen.

Für mich war das bis vor Kurzem anders, denn es gab keinen tastbaren Stadtplan, da die Herstellung sehr aufwendig, vor allem aber kostenintensiv ist. So kannte ich die Stadt, in der ich geboren bin, nur aus gut gemeinten, oftmals aber unbrauchbaren Beschreibungen Sehender, da viele Anhaltspunkte, die sie zur Orientierung verwendeten, für mich nichts bedeuteten, da nur für das Auge sichtbar, und aus dem Bisschen, das ich mir selbst stückchenweise erarbeitete. Große Teile der Stadt waren mir völlig unbekannt.

Aber noch ein gravierender Unterschied besteht zwischen Ihnen und mir: Geburtsblinde haben zumeist nur ein sehr eingeschränktes räumliches Vorstellungsvermögen, und es fehlt - trotz Stadtplan - die Möglichkeit, Zusammenhänge auf einen Blick zu erfassen.

Als es dann endlich so weit war und ich gemeinsam mit einigen ebenso Interessierten vor dem ersten Relief-Kartenblatt saß, empfand ich eine Mischung aus großer Freude, Neugierde und Unsicherheit.

Die erste völlig unerwartete Überraschung trat prompt ein. Ich hatte geahnt, dass es nicht wie beim Landkartenlesen in der Schule sein würde, war mir aber, nachdem ich zum Unterschied von anderen blinden Menschen über ein relativ gutes Orientierungsvermögen verfüge, sehr sicher, die neue Situation durchaus bewältigen zu können. Da saß ich nun und konnte in diesem Gewirr von Linien, unterschiedlichen Symbolen, Vertiefungen und Erhöhungen fast nichts erkennen. Auch stellte ich mit Staunen und zunehmendem Frust fest, was die anderen alles "sahen". Trotz großer Bemühungen kam ich immer wieder vom rechten Weg ab. Der erste Abend endete sehr frustrierend.

Nach diesem Erlebnis war ich mir keineswegs mehr sicher, ob ich mich jemals auf so einer Karte zurechtfinden würde. Langsam erst kam "Licht ins Dunkel".

Kaum lernte ich Symbole zu deuten, lag die nächste Überraschung schon bereit. Ich musste feststellen, dass die Karten, von meinem Plan im Kopf stärker abwichen als vermutet. In meinem Bild im Kopf gab es nur wenige gewundene Straßen, denn weitgezogene Kurven kann man als blinder Fußgänger nicht als solche erkennen. Bei mir verlief alles im rechten Winkel. Ich wusste, dass das nicht realistisch ist. Nun staunte ich aber doch, wie lang oder kurvenreich so manch eine Straße ist. Häufig gehörte Straßennamen konnte ich in dem von mir vermuteten Stadtteil nicht finden und musste schließlich zur Kenntnis nehmen, dass sie sich in einem ganz anderen Stadtteil befanden. Nachdem an der Richtigkeit dieser Karten nicht zu zweifeln war, musste ich wohl oder übel "meinen Plan" revidieren. Manch ein Platz und eine Straße wurden an den Ort gerückt, an den sie längst schon hingehörten.

Erst beim intensiven Studium der Karten bemerkte ich, wie detailliert sie sind, fand schließlich rasch und mühelos von einem Punkt zum nächsten und auch wieder zurück, entdeckte Stiegen, Hauseingänge, ampelgeregelte Kreuzungen, für uns mit Akustik adaptierte Ampeln, Bus- und Straßenbahnhaltestellen. Es war einfach faszinierend.

Vielen Menschen, die von Geburt an blind sind, bereitet das Umsetzen des am Plan Erarbeiteten große Schwierigkeiten. Die Unsicherheit, ob es auch mir so ergehen würde, ist nun vorbei. Ich kann jetzt mit Hilfe des tastbaren Planes neue Wege erforschen. Es ist interessant, mit sehender Hilfe einen Weg, den man mit öffentlichen Verkehrsmitteln zurücklegt, auf dem Plan nachzuvollziehen und festzustellen, durch welche Straßen man gefahren ist. Früher war mir das nicht möglich, da "mein Plan" im Kopf viel zu lückenhaft war und in der Hauptsache aus Wegen bestand, die ich "bewaffnet" mit meinem weißen Stock zu Fuß zurückgelegt hatte. Etwas schwierig ist es allerdings für mich noch, Entfernungen richtig einzuschätzen. Am Plan erscheint mir vieles oft weiter, als es in der Realität dann ist. Schwierige Wege oder große Plätze kann ich mir anhand des Planes zwar gut vorstellen, doch benötige ich trotz Planes die ersten Male sehende Begleitung, die mir gute Anhaltspunkte zeigt und mir hilft, die Gegebenheiten richtig zu verstehen.

Mittlerweile liegt ein interessantes Jahr, in dem wir gemeinsam viele neue Erfahrungen sammeln durften, hinter uns. Der Plan liest sich inzwischen wie ein spannendes Buch. Immer noch gibt es Aha-Erlebnisse. "Mein Plan" im Kopf wächst langsam, das Schöne daran ist aber, dass ich mir nicht mehr alles zu merken brauche, denn ich kann jederzeit "nachschauen" wie jeder Sehende auch.

Unser Stadtplan hat, wegen fehlender Geldmittel, derzeit einen Umfang von 48 Kartenblättern, was ungefähr ein Drittel des Stadtgebiets abdeckt. Die meisten dieser Karten sind im Maßstab 1:1000 ausgeführt; einige, wie z. B. der Jakominiplatz - wegen seiner Komplexität - im Maßstab 1:500. Herzlichen Dank all jenen, die uns dazu verholfen haben.

Danke auch all jenen, die sich für das Projekt "Tastbarer Stadtplan" eingesetzt haben, uns ins Planlesen einführten und viele Stunden in die Vorbereitung der Stadtplanpräsentation investierten.

Ganz besonders bedanken möchte ich mich aber bei Frau Linhart. Sie hat zusätzlich zu all der Arbeit, die sie mit diesem Projekt hatte, mit uns unzählige Stunden am neuen Jakominiplatz verbracht. Mit Hilfe des tastbaren Planes, ihrer Geduld, ihres Einfühlungsvermögens und Erklärungen konnten wir den schwierigen Platz erarbeiten.

Jetzt erst so richtig neugierig geworden, träume ich davon, einmal die ganze Stadt vor mir ausbreiten und begreifen zu können.

Petra Raissakis

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© 1996 by Petra Raissakis, Graz
Erstellt am Mo, 16.10.00, 08:01:19 Uhr.
URL: http://anderssehen.at/alltag/unterw/plan.shtml

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