Gedanken über ihre ganz eigene Sicht auf ihr Sehen bzw. ihr Wenig- oder Nichtsehen äußerte Susanne Siems in ihrem Erfahrungsbericht auf der VBS-Tagung in Leipzig:
Es gibt Situationen, die ich oft genug verfluche, die übersehene Stufe, den nicht lesbaren Fahrplan. Der Alltag ist oft genug ein Abenteuer, etwas, was mich immer wieder mal an die Grenzen des Möglichen gehen lässt. Meine Augen, die oft nur wenig von ihrer Umwelt erfassen, sie lassen mir Raum für das innere Sehen, die Phantasie. Es ist bekannt, dass man Dinge schönreden kann, ich als Sehbehinderte kann sie mir auch schön sehen. Das sind die Momente, in denen ich meine Augen richtig mag, und die mir die Kraft geben, mein Erleben, Positives wie Negatives, nach Außen zu tragen. Diese eigentlich positive Sicht meiner Behinderung möchte ich den vielen Problemen des Alltags gegenüber stellen.
Ich will, vielleicht an manchen Stellen mit etwas Phantasie ausgeschmückt, einmal für Sie den ganz normalen Tag einer sehbehinderten Familie aufzeichnen. Natürlich habe ich bewusst viele Probleme aufgespürt - wir wollen ja hier schließlich auf Missstände hinweisen. Begleiten sie mich also bitte an diesem erdachten Montag Morgen:
Sechs Uhr: Der Radiowecker geht an, der Tag beginnt. Nun ist es morgens schon wieder dunkel draußen. Ich gehöre zu der Gruppe von Sehbehinderten, die nie genug Licht haben können, am liebsten Tageslicht. Ist das nicht zu haben, sind die richtigen Lampen ausschlaggebend für mein Wohlbefinden. In meiner kürzlich neu eingerichteten Wohnung habe ich es geschafft, die einigermaßen richtige Beleuchtung zu besorgen. Das ist nicht einfach - genauso viel Licht, wie ich zum Leben brauche, ist für die Menschen, mit denen ich zusammenlebe, eher störend. Wir haben jetzt viele Lichtquellen, die man dimmen kann, viel indirekte Beleuchtung und viel Akzentbeleuchtung. Aber das so hinzukriegen hat jede Menge Zeit und Energie gekostet: den Laden, wo man alle Lampen kaufen kann, gibt es leider noch nicht, er ist aber ein Wunschtraum für viele Sehbehinderte. Ich könnte dann dorthin gehen, fände die verschiedensten Modelle, bekäme auch mal eines für zwei Wochen mit nach Hause, um es in der eigenen Umgebung auszuprobieren. So war es leider nicht. Eine Fahrt zu IKEA, umständlich, zwei Mal umsteigen, weil wie üblich auf der grünen Wiese, nur für Autofahrer günstig. Dort die empfohlene Arbeitsplatzleuchte gekauft, die richtigen Fluter auf dem Baumarkt, die gemütlichen Lampen für das Wohnzimmer dann doch im Möbelhaus und die Spezialleuchte für die Küche am anderen Ende der Stadt, weil sie dort ein Kollege entdeckt hat. Ich weiß, das geht Sehenden mit vielen Dingen auch so. Nur, bei einem Sehbehinderten dauert es meist die doppelte oder dreifache Zeit und in den meisten Fällen ist der "Spaß" auch preisintensiver. Nun gut, wir haben es diesmal geschafft; der Wunschladen kann mal wieder auf den nächsten Umzug verschoben werden.
6.30 Uhr: mühsam aus dem Bett gequält, Frühstück gemacht. Ach ja, Einkaufen müssen wir auch wieder, heute Nachmittag muss Zeit dafür sein.
7.00 Uhr: Ich gehe mit meinem Sohn aus dem Haus. Bis vor zur Ecke. Wir haben Glück, er muss die vielbefahrene Straße nicht queren, aber so richtig wohl fühle ich mich beim Rübergehen heute auch nicht. Das Tageslicht kämpft noch gegen das Dunkel der Nacht, den Autofahrern fordert das die Entscheidung ab, fahre ich mit oder ohne Licht. Als ich dem, der sich gegen das Licht entschieden hatte, in letzter Sekunde ausgewichen bin, hoffe ich einmal mehr auf die Regelung, dass alle mit Licht fahren müssen. Nächstes Jahr soll vorn an die Ecke beim Jugendklub eine Ampel hin. Für mich eine Kompromisslösung, denn dort quert man als Fußgänger kaum diese Straße. Hier am Ausgang des Wohngebietes auf dem Weg zur Straßenbahnhaltestelle hätte ich sie günstig gefunden. Na ja, vielleicht regelt sich der Verkehr wenigstens durch die Schaltung an der anderen Kreuzung. Vielleicht gibt es auch zu einem späteren Zeitpunkt noch Chancen auf einen Zebrastreifen? Mein Sohn könnte dann gefahrloser seinen Freund besuchen und, ich gebe es zu, am Wochenende die Brötchen holen.
An der Haltestelle warte ich auf meine Bahn. In der Dämmerung und Dunkelheit ist die Beschriftung bei den meisten Wagen gut zu lesen. Als sie kommt, suche ich wie üblich den Türöffner und mühe mich, ihn richtig zu bedienen. Am Hauptbahnhof muss ich umsteigen. Das ist nicht ungefährlich, die Gleise sind auf gleicher Ebene wie die Fußwege, alles ist eng. Zwischen den Bahnen fahren noch Busse, die viel breiter sind und zudem noch verteufelt leise. Ich atme jedes Mal durch, wenn ich das Umsteigen geschafft habe.
Im Betrieb angekommen beginnt mein Arbeitstag. Die sehbehindertengerechte Computerausstattung und das Bildschirmlesegerät sind mir inzwischen unersetzlich. Da die Einrichtung für Blinde und Sehbehinderte arbeitet, ist auch ihre räumliche Gestaltung den Bedürfnissen dieser Personengruppe angepasst. Das massive Orientierungsproblem, das fast jeder Sehbehinderte hat, wenn er vom Hellen plötzlich ins Dunkle kommt, fällt mir hier kaum auf, da ich das Gebäude wie meine Westentasche kenne. In unbekannter Umgebung sähe das vollkommen anders aus. Oft bekomme ich dann auch nicht die Hilfe, die ich in jenem Augenblick brauchen könnte, weil niemand mit meinem scheinbar ganz plötzlich schlechteren Sehen zurechtkommt. Aber wie gesagt, in vertrauter Umgebung fällt die Orientierung leicht. Darum sind geeignete Standardisierungen beim Bauen und Gestalten für Sehbehinderte m.E. auch sehr wichtig.
Leider kann ich heute nicht den ganzen Tag am Schreibtisch sitzen, muss noch eine Dienstreise nach Chemnitz machen. Also wieder los, zum Bahnhof. Auf welchem Gleis fährt der Zug ab? Ich versuche es wieder einmal mit dem Fahrplanaushang. Leider gibt es ja die elektronische Anzeige neben dem Servicepoint nicht mehr, die war gut lesbar in meiner Augenhöhe angebracht. Warum sie weg ist, wissen die Götter. Den Fahrplan kann ich dann nach einiger Mühe doch noch entziffern, ich fahre zu einer günstigen Uhrzeit, 12.00 wäre ganz oben am Fahrplan gewesen, da hätte ich keine Chance gehabt. Das Schild oben am Anfang der Gleise kann ich nicht lesen, da war das alte besser. Habe mich von meinen sehenden Freunden trösten lassen, sie können das auch so gut wie nicht lesen. Aber irgendetwas ist komisch. Der Zug ist nicht da. Also zurück zum Servicepoint, angestellt. Auskunft, etwas unwirsch. Ja, die 26er Züge nach Chemnitz fallen alle wegen Bauarbeiten aus. Damit ist für mich die Reise nach Chemnitz für heute geplatzt. Ein vernünftiger Aushang oder wenigstens eine Durchsage auf dem Bahnsteig hätten mir eine halbe Stunde und ein Bündel Nerven gespart.
Auf dem Weg zurück zur Arbeit komme ich am Naturkundemuseum vorbei. Dort gibt es seit einiger Zeit einen akustischen Museumsführer für Blinde und Sehbehinderte. Diese Erklärungen helfen sehr viel. Eigentlich sollte jedes Museum so eine Kassette oder ein Heft in Großschrift haben. Am besten wäre natürlich, alle Beschriftungen der Exponate wären so groß, dass sie auch von Sehbehinderten und vielen älteren Menschen mühelos gelesen werden können. Mein Interesse an ethnographischen Sammlungen oder historischen Musikinstrumenten ist groß, aber nur zu oft bin ich deprimiert aus einem Museum gegangen, weil mir wichtige Dinge dort nicht zugänglich waren - Schilder hinter Glas, viel zu klein geschrieben. Wandtafeln, die viel zu hoch hängen oder hinter den Ausstellungsstücken. Seltsam und ein bisschen traurig, dass ich außerhalb Deutschlands da bessere Erfahrungen machen konnte. Ich glaube auch nicht, dass es immer die großen Gelder sind, die fließen müssen. Man sollte vielleicht bloß einmal öfter uns Betroffene fragen.
Nachmittags ist dann Einkaufen dran. Den Supermarkt auf dem Bahnhof habe ich, obwohl er günstig liegt, ausgelassen. Dort ist die Beschriftung der Artikel so klein, dass ich selbst mit Lupe Schwierigkeiten habe, die Preise zu erkennen. Außerdem haben die gerade umgeräumt, sodass ich mich vollkommen neu orientieren muss. Lieber bleibe ich bei unserem Supermarkt im Wohngebiet, der ist zwar etwas weiter und ich trage nicht gern schwere Taschen, aber zumindest die hohen Preise sind groß geschrieben und ich weiß inzwischen auch ungefähr, wo alles steht. Auf dem Weg nach Hause ist mir noch ein kleines Missgeschick passiert. Ganz deutlich habe ich die 10 an der Straßenbahn gesehen. Aber als sie dann um die Ecke fuhr, war mir klar, dass es eben doch die 16 war; wieder eine halbe Stunde weg. Wenn ich wenigstens die elektronischen Anzeigen an der Haltestelle lesen könnte. Aber in drei Meter Höhe und bei strahlendem Sonnenschein habe ich da nicht mal mit Monokular eine Chance.
Also Einkaufen: das geht diesmal reibungslos, keine ausgefallenen Produktwünsche habe ich. Das Verfallsdatum der Lebensmittel habe ich bis auf zwei entziffern können. Bei dem einen frage ich eine Verkäuferin, bei dem anderen lass ich es drauf ankommen. Irgendwann hat jeder mal die Nase voll vom Tagesgeschehen. Und meine Geschmacksnerven sind schließlich nicht behindert. Immerhin ist mir diesmal die Omi erspart geblieben, die mich am Kühlregal nach den für sie und mich nicht lesbaren Inhaltsstoffen im Joghurt fragt.
Zuhause angekommen, schnappe ich mein Kind und fahre mit ihm zum Schwimmen. Dieses mal mit der S-Bahn. Mit dem Kinderwagen habe ich sie gehasst, weil der Abstand zwischen Bahnsteig und Zug sehr groß ist. Das bleibt auch für ältere und behinderte Menschen das Problem.
In der Schwimmhalle gehen wir sehr zögerlich auf die überhaupt nicht markierte Stufe in Mitten der Halle zu, mit der wir schon früher unangenehme Bekanntschaft gemacht haben. Auch die Glastüren kennen wir inzwischen. Die Brille meines Sohnes ging hier schon zu Bruch.
Nach dem Schwimmen geht die ganze Familie dann noch zum Italiener essen. Jeder bestellt sein Lieblingsgericht. Das ist praktisch, denn die Speisekarte kann keiner von uns so richtig lesen.
Probleme, Probleme, nichts als Probleme? Es ist in der Realität nicht immer so. Es wäre so gar nicht auszuhalten. Aber um zu zeigen, wie viel Gewicht gerade scheinbare Nebensächlichkeiten bekommen, wenn sie gebündelt auf einen einwirken, musste es einmal so dargestellt werden. Und vielleicht stößt ein nächster Erfahrungsbericht in einigen Jahren bereits auf weniger Barrieren ...
Susanne Siems
Aus: "Die Gegenwart", Zeitschrift des DBSV, Nr. 11, November 2002.
Weitere ausgewählte Artikel aus der "Gegenwart" finden Sie auf der
Homepage des Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverbandes.
Erstellt am Mi, 27.11.02, 11:46:09 Uhr.
URL: http://anderssehen.at/alltag/berichte/alltag.shtml