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Anpassung um welchen Preis?
- Als Mädchen mit einer Sehbehinderung

Krankenhaus

"Wir müssen auf jeden Fall operieren, sonst wird Ihre Tochter erblinden."

Ich bin Jahrgang 1965. Da meine ältere Schwester auch eine angeborene Sehbehinderung hat, wurde bei mir schon mit sechs Wochen die Augenkrankheit Glaukom festgestellt. Dabei handelt es sich um eine Augenerkrankung, die fortschreitend ist. Erhöhter Augeninnendruck kann nach und nach zum Absterben des Sehnervs und damit zur Erblindung führen. Diese Behinderung hat meine Kindheit und Jugendzeit stark geprägt.

Da ich als Kleinkind noch annähernd normal gesehen habe, mein Sehen jedoch durch den erhöhten Augendruck häufig auf der Kippe stand, hatten meine Eltern immer wieder zu entscheiden, ob eine Operation vorgenommen werden soll oder nicht. Abwägung von Risiken und Chancen. Die Ärztinnen übten einen enormen Druck aus, zu operieren. Die Äußerung: "Wir müssen auf jeden Fall operieren, sonst wird ihre Tochter erblinden", brachte meine Eltern immer wieder dazu, schnell zu entscheiden. In dieser Zeit verbrachte ich teilweise mehrmals im Jahr Wochen oder Monate im Krankenhaus. Ich lebte mich zwar immer wieder schnell dort ein, erinnere mich jedoch noch gut an die traurigen Abschiedsszenen, wenn meine Eltern nach der Besuchszeit am Sonntag wieder wegmussten.

Im Krankenhaus erlebte ich auch oft unangenehme Situationen, in denen ich Anschauungsobjekt für ÄrztInnen und StudentInnen war. Dabei wurde von meinen Augen wie über ein Ding - etwas, das kaputt ist und repariert werden muss - gesprochen. So durfte eine Schar von StudentInnen meine Augen begutachten, mit einer grellen Lampe hineinleuchten und so darüber sprechen, dass ich nichts verstand. Die 17 Augenoperationen, die bis zu meiner Einschulung an mir vorgenommen wurden, konnten eine kontinuierliche Verschlechterung meines Sehens nicht verhindern. Vielleicht haben sie dies sogar beschleunigt, doch nachweisen können wir "den Göttern in Weiß" nichts. Im Nachhinein habe ich die Vermutung, dass ich für die Ärzteschaft als "Versuchskaninchen" für die neuesten Operationsmethoden im Bereich Glaukom herhalten musste. Zu forschen und neue Methoden auszuprobieren, ist im medizinischen Bereich sicherlich notwendig. Grundvoraussetzung muss jedoch sein, dass die betreffenden Personen darüber informiert und damit einverstanden sind. Und auch dann sind sie kein Forschungsobjekt. Sie müssen als mündige Personen wahrgenommen und respektiert - und dementsprechend in die Behandlungen und Entscheidungen einbezogen werden.

Lebenspraktische Fertigkeiten und Mobilitätstraining

Wann nutze ich diese Fähigkeiten und in welchen Situationen will oder muss ich Hilfe in Anspruch nehmen?

In meiner Schulzeit, in den 70ern und Anfang der 80er, war das Bild von Behinderung defizitorientiert, die "Aktion-Sorgenkind-Mentalität" war weit verbreitet. Die Aussonderung von Menschen mit Behinderungen "von der Wiege bis zur Bahre" hatte Hochkonjunktur.

So habe auch ich die typische Sonderschulkarriere hinter mir. Bis auf das 1. Schuljahr Regelschule besuchte ich nur Sehbehinderten- und Blindenschulen.

Erst als ich mit 15 auf ein Gymnasium für Blinde und Sehbehinderte nach Marburg kam, lernte ich, mich selbstständig im Straßenverkehr zurechtzufinden. So wurde mir im Rahmen des Mobilitätstrainings das Gehen mit dem Blindenstock vermittelt. Auch trainierte ich, eigenständig Bus zu fahren. Ich lernte zudem, Ampeln ohne Signalton für Blinde nach Gehör zu benutzen. Durch Beobachtung des Verkehrsflusses kann ich feststellen, wann die betreffende Ampel grün hat.

Zu den "Lebenspraktischen Fertigkeiten", die wir in Marburg zur Verwirklichung einer unabhängigen Lebensführung erlernten, gehörte u.a. einkaufen, kochen und putzen, also Haushaltsführung. So wurde etwa vermittelt, was es heißt, als blinder oder sehbehinderter Mensch einkaufen zu gehen. Wir prägten uns den Aufbau eines Lebensmittelladens ein, merkten uns, wo alles steht, so dass wir selbst die Ware aus den Regalen holen konnten. Bei Produkten, die nicht eindeutig sind - etwa Dosen - sollten wir jemanden im Laden fragen.

Mit diesen Fähigkeiten setzten wir SchülerInnen uns unter einen großen Leistungsdruck und traten in Konkurrenz zueinander. Blinde bzw. sehbehinderte MitschülerInnen, die sich im Lebensmittelladen von einer Verkäuferin alle Produkte heraussuchen ließen, waren schlecht angesehen. Oder Taxifahren in fremden Gegenden war ein Ausdruck von Unselbstständigkeit. Ich hatte diesen Leistungsdruck auch noch lange nach meiner Schulzeit verinnerlicht. So wollte ich etwa eine Freundin das erste Mal besuchen und ließ mir den Weg erklären. Obwohl die Beschreibung nicht auf die Orientierung blinder Menschen ausgerichtet war, begab ich mich abends auf die Suche nach ihrer Wohnung. Nach einer Stunde beschloss ich endlich, irgendwo zu klingeln und mich zur Wohnung bringen zu lassen. Erst nach dieser Erfahrung habe ich häufiger in fremder Umgebung ein Taxi genommen. Lange fand ich es auch nicht gut, dass in Marburg fast jede Ampel mit Signalton für Blinde ausgestattet ist. So würde uns doch für andere Städte die Übung fehlen, Ampelphasen nach dem Verkehrsfluss herauszuhören. Warum habe ich statt dessen nicht gefordert, dass alle Ampeln blindengerecht ausgestattet sein müssen?

Zu meiner Schulzeit war es nicht Teil des pädagogischen Konzeptes der Einrichtungen für blinde und sehbehinderte SchülerInnen, zusätzlich zu den notwendigen lebenspraktischen Fertigkeiten und dem Mobilitätstraining, einen angemessenen Umgang mit diesen Techniken zu vermitteln. Wir lernten nicht, zu unterscheiden, wann wir diese Fähigkeiten nutzen und in welchen Situationen es - je nach persönlicher Tagesverfassung sowie abhängig von den momentanen familiären und/oder beruflichen Anforderungen - entlastend sein kann, Hilfe in Anspruch zu nehmen (ob bezahlt oder nicht, sei hier dahingestellt). So lernten wir schon früh, uns so weit wie möglich an die Leistungsnormen der sehenden Umwelt anzupassen, egal mit welchem zeitlichen oder kräftemäßigen Mehraufwand. Aufgrund der Kritik der Betroffenen findet inzwischen in diesen Einrichtungen langsam ein Umdenken in diesem Punkt statt.

Zum äußeren Erscheinungsbild
Schminkkurs für blinde Mädchen

Die Anpassung an herrschende Schönheitsnormen ist nur die logische Konsequenz aus der zuvor beschriebenen Grundhaltung. Wir blinde und sehbehinderte Mädchen sollten möglichst wie "richtige", d.h. nichtbehinderte Mädchen aussehen. Besonders schicke Kleidung sollte von der Behinderung ablenken. Bei einem abweichenden Aussehen der Augen wurde häufig zu einer dunklen Brille geraten, um dies zu kaschieren (letzteres bezieht sich auch auf blinde Jungen/Männer). In meiner Marburger Schulzeit gab es ein ganz besonderes Angebot: nämlich den Schminkkurs für blinde Mädchen. Obwohl ich mich zu dieser Zeit noch nicht kritisch mit der gesellschaftlichen Sicht von Behinderung auseinandergesetzt hatte, fand ich ein solches Angebot schon damals absurd. Sollte ich mich etwa der Lächerlichkeit aussetzen, mit verschmiertem Gesicht herumzulaufen, da ich nicht selbst überprüfen kann, ob etwa der Lippenstift oder die Wimperntusche im Laufe des Tages verwischte?

Ich bin nicht der Ansicht, dass das Aussehen behinderter Mädchen keine Rolle spielen darf. Jedoch muss jedes Mädchen mit Behinderung - genauso wie jedes nichtbehinderte Mädchen - für sich selbst entscheiden können, wie wichtig ihr ein "attraktives" Äußeres ist.

Vorbereitung auf den Beruf

"Für mich gab es im Vergleich zu meinen nichtbehinderten Freundinnen eine stärkere Ausrichtung auf eine gute Berufsausbildung oder ein Studium."

Als Mädchen habe ich von meinen Eltern und der Umwelt nicht direkt vermittelt bekommen, dass ich später wohl keine Familie gründen sollte. Jedoch wurde ich auch nicht wie andere Mädchen darauf vorbereitet. Das Thema ist, wenn möglich, vermieden worden. Statt dessen gab es im Vergleich zu meinen nichtbehinderten Freundinnen eine stärkere Ausrichtung auf eine gute Berufsausbildung. Auch Abitur und ein späteres Studium wurden schon früh von meinen Eltern und mir angestrebt.

In den Sehbehinderten- und Blindenschulen, die ich besuchte, wurden wir dahingehend auf den Beruf vorbereitet, dass wir als Blinde immer mehr leisten müssten, um bei den nichtbehinderten KollegInnen anerkannt zu sein. Diese PädagogInnenmeinung ging auch an mir nicht spurlos vorbei. So musste ich mich gerade zu Beginn meiner Berufstätigkeit mit eigenen, überzogenen Leistungsanforderungen auseinandersetzen, die eher hinderlich für die Arbeit waren.

Rückblick

"Als Mädchen haben mir behinderte Frauen als Rollenmodelle für meine Lebensgestaltung gefehlt." Wie die meisten behinderten Mädchen bin ich mit dem Gefühl aufgewachsen, an mir würde etwas nicht stimmen. Ich lernte schon früh, die Behinderung - mein "Defizit" - auszugleichen, etwa durch gute Schulleistungen oder durch ein besonders witziges Auftreten, indem ich den Clown spielte. Um ein gutes Gefühl zu mir als Mädchen mit einer Sehbehinderung zu bekommen, haben mir lange positive Rollenmodelle gefehlt. Aufgrund meiner Erfahrungen kann ich rückblickend sagen, dass ein Beratungs- und Unterstützungsangebot für behinderte Mädchen - mit selbst behinderten Frauen als Beraterinnen - sehr wichtig ist. Mit einem solchen Angebot können behinderte Mädchen bei der Entwicklung eines positiven Selbstwertgefühls und durch Rollenmodelle für die eigene Lebensgestaltung unterstützt werden. Ein solches Angebot hat mir als Mädchen gefehlt.

Birgit Schopmans

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© by Birgit Schopmans
Erstellt am Fr, 21.10.05, 08:01:19 Uhr.
URL: http://anderssehen.at/alltag/berichte/anpassung.shtml

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