Ich muss so ungefähr acht Jahre alt gewesen sein. Eine Freundin meiner Mutter war zu Besuch. Es war ein Sonntagmorgen und außer ihr und mir war noch keiner richtig wach. Falls doch jemand wach war, dann befand er sich nicht im Wohnzimmer. Dort waren nur wir Beide und deckten den Frühstückstisch.
Sie stellte Lebensmittel hin und ich verteilte das Geschirr. Bis dahin ging alles gut. Aber dann kam das Besteck dran:
Mama bekam, zusätzlich zu ihrem Messer, einen Teelöffel, damit sie den Zucker in ihren Tee rühren konnte. Meine Schwester bekam auch einen Löffel für ihren Kakao. Ich bekam auch einen, weil man damit das Nutella besser aus dem Glas bekam. Mamas Freundin wollte auch einen Löffel. Von Papa wusste ich ganz sicher, dass er keinen Löffel brauchte. Also bekam er auch keinen.
"Du hast deinen Vater vergessen. Er hat keinen Löffel."
Ich erklärte ihr, dass er keinen brauchte und auch noch nie einen hingelegt bekommen hatte.
"Natürlich legst du ihm auch einen hin."
Warum sollte ich das tun? Er brauchte keinen. Der Löffel wäre überflüssig am Tisch. Mein Vater war manchmal etwas brummelig, besonders dann, wenn er irgendwas nicht verstand. Er würde wahrscheinlich zum Frühstück kommen und fragen, was der Quatsch solle und wozu da ein Löffel lag. Wieso sollte ich mir also eine Frühstücksbrummelei vorprogramieren?
Ich fragte Mamas Freundin noch einmal, warum ich für Papa einen Löffel holen sollte.
"Wenn man für eine Familie den Tisch deckt bekommen alle das Gleiche. Und falls du gleich wieder fragst: "Warum?", das Auge isst mit."
"ja aber ---", weiter kam ich nicht, denn sie hatte das Zimmer verlassen, um irgendwas zu holen.
Da stand ich nun allein, zusammen mit einem überflüssigen Teelöffel in der Hand und einem merkwürdigen Satz im Kopf.
Den Löffel legte ich auf Papas Platz. So, den war ich schon mal los. Aber was sollte mit der neuen Information passieren: "Das Auge isst mit."
Ich war ein schlechter Esser und ein entsetzlich langsamer Esser noch dazu. Ich hatte oft schon genug damit zu tun, das Essen freiwillig in meinen Mund zu bringen. An mein Auge hatte ich dabei nie gedacht. Ich hatte auch noch nie mitbekommen, dass mein Vater mit einem Auge gegessen hatte. - Mama auch nicht. - Aber wir waren auch alle drei Blind. Meine Schwester konnte sehen, ganz normal sehen. Aß sie vielleicht heimlich mit einem Auge und konnte deshalb sehen? Wir anderen drei Familienmitglieder sahen ja nichts. Es wäre also niemandem aufgefallen, wenn sie mit dem Auge essen würde.
Wussten meine Eltern auch nicht, dass das Auge was essen musste, und waren wir deshalb blind?
"das Auge isst mit"" - Ja, welches denn? Das rechte oder das linke?
Ich konnte noch hell und dunkel unterscheiden. Das rechte Auge sah etwas mehr Licht, als das linke. Also war in meinem Fall wohl das rechte gemeint.
Aber meine Augen machten eigentlich immer schon Theater, wenn nur ein Krümel hineinkam. Das rechte verhielt sich dabei genau so, wie das linke. Beide tränten wie verrückt, und ich sah verschwommen. Essen ins Auge bekommen, stellte ich mir unangenehm vor.
Doch dann fiel mir ein, dass das bestimmt so war, wie mit dem Mund. Wenn ich Fleisch oder Erbsensuppe in den Mund bekam, musste ich würgen. Ich bekam das Zeug einfach nicht runter. Das war unangenehm. Aber Reis oder Smartys konnte ich problemlos essen. Das war nicht unangenehm. Beim Auge konnte das schließlich auch so sein, oder? Es tränte wohl nur, wenn ich im Sandkasten Sand hineinbekam. Verständlich. Mein mund mochte ja auch keinen Sand.
Dass ein Auge essen konnte, war mir so neu und unverständlich, dass die vielen Fragen in meinem Kopf herumwirbelten. Ich beschloss, es auszuprobieren.
Beim Frühstück aß ich erst mal, mit dem Mund, ein halbes Honigbrötchen und war damit eine Weile beschäftigt. Die anderen waren wie immer fast mit dem Essen fertig, als meine erste Brötchenhälfte verschwunden war.
Die zweite Hälfte hielt ich vor mein rechtes Auge. Ich konnte den Umriß der Brötchenhälfte genau sehen. Aber das Auge biss einfach nicht ab!
Der Honig tropfte langsam auf meinen Zeigefinger hinunter, denn ich hatte das Brötchen versehendlich etwas schief gehalten. Darum nahm ich dem Auge das Brötchen kurz weg, um den Honig wieder hinauf zu schieben. Dann hielt ich das Brötchen wieder hin. Doch das Auge tat gar nichts.
Ich kannte das schon von meinem Mund, denn ich brauchte damit auch oft lange, bis ich Abbeißen konnte, und auch dann manchmal nur kleine Bissen. Wenn mir jemand Druck machte, ging überhaupt nichts mehr. Darum wartete ich geduldig, ließ dem Auge Zeit und war nicht böse.
Jemand schlug auf den Tisch: "vergiss das Essen nicht!"
Wie oft hatte ich diesen, ungeduldig gesprochenen, Satz schon gehört, fast bei jeder Mahlzeit. Aber ich hatte doch noch nie so aufmerksam ans Essen gedacht, wie gerade bei diesem Frühstück?
"Immer fängst du beim Essen an, zu Träumen!"
Ich war doch ganz bei der Sache? Ich versuchte doch gerade, alles richtig zu machen. Was wollten die Erwachsenen denn von mir? Was war denn jetzt wieder falsch?
Um weiteren Ärger zu vermeiden, entschuldigte ich mich in Gedanken bei meinem rechten Auge und aß das Brötchen, wie sonst auch, mit dem Mund auf. Das dauerte sowieso noch lange genug.
Ich beschloss, dass ich beim gewohnten Essen schon so langsam war, dass ich auf mein Auge, das offenbar noch viel langsamer war, nicht warten konnte.
Mein Sehrest ging mir zum Glück erst einpaar Jahre später verloren. Da hatte ich schon begriffen, was eine Redensart ist. Sonst hätte ich mir wohl Vorwürfe gemacht.
© 2005 by Yvonne Ramm
Erstellt am Fr, 18.03.05, 08:01:19 Uhr.
URL: http://anderssehen.at/alltag/berichte/augen.shtml