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200 Jahre Blindenbildung im deutschsprachigen Raum

Beschreibung eines gelungenen Versuches
blinde Kinder zur bürgerlichen Brauchbarkeit zu bilden
(Teil 2)

(Dies ist eine Abschrift, in der die Rechtschreibung aktualisiert wurde. Sie ist daher im strengen Sinne nicht zitierfähig!)

Die Buchstaben lernte er dadurch kennen, dass ihm selbe von Pappdeckel, anfänglich in beträchtiger Größe, jeder etwa 3 Zoll lang, ausgeschnitten wurden, die er von allen Seiten befühlen konnte. Um sich die Figur derselben desto besser einzuprägen, ließ ich ihn selbe von weichem Wachs nachbilden, und so wie er darin einige Fertigkeit erlangt hatte, musste er die Buchstaben immer kleiner bilden. Um Silben und Wörter zusammensetzen zu können, wurden kleine erhabene Buchstaben jeder einzeln auf eine glatte Unterfläche von Kartenpapier aufgeleimt. Ein Vorrat von solchen Buchstaben ist in ein mit Fächern versehenes Behältnis, den Leskasten, gereiht, sodass die einzelnen Buchstaben in eine dabei befindliche mit Falzen versehene Tafel, die Lesetafel, eingeschoben, und auf solche Art Wörter und Sätze zusammen gesetzt und gelesen werden können. Hierin hat der Knabe so viele Fertigkeit erlangt, dass er in ziemlicher Geschwindigkeit die Buchstaben aus ihren Fächern zusammen sucht, und damit was man verlangt, lesbar zusammensetzt, oder umgekehrt, dass was auf solche Art von einem Andern geschrieben wird, ganz geläufig abliest, indem er leise mit den Fingern darüber hinfährt.

Auf eine ganz ähnliche Art wie bei den Druckbuchstaben, brachte ich ihm auch die Figur der eigentlichen Schriftbuchstaben bei, um ihn aber das Schreiben von Silben und Wörtern zu lehren, musste ein eigenes Mittel gewählt werden. Diese Dienste leistete ein abfärbendes Papier, mittels dessen und einer Unterlage von weichem Leder, das mit einem Griffel Geschriebene auf einem dazwischen gelegten weißen Blatte sichtbar und unverwischbar erscheinet. In der Folge lernte er auch mit Bleistift und mit der Feder schreiben. Damit die Zeilen gleich werden und nicht ineinander laufen, werden selbe in die Zwischenräume eines von dünnem Pappdeckel ausgeschnittenen Linienblattes eingeschrieben, welches Mittel ich schon früher einem erwachsenen Blinden mit gutem Erfolge angeraten hatte.

Die Anfangsgründe des Rechnens brachte ich ihm vermittels einer sogenannten Rechenschnur bei. Diese besteht aus 100 kleinen hölzernen Kugeln, welche in gleichen Entfernungen an eine Schnur gereiht sind, und immer die zehnte etwas größere durch eingeschlagene Stifte nach ihrem Abstand vom Anfang der Schnur, und auf eine ähnliche Art die dazwischen befindliche fünfte Kugel bemerklich gemacht ist, sodass in jeder Stelle der Schnur in einem Augenblick, ohne nachzuzählen, die Zahl, welche jeder einzelnen Kugel zukommt, gefunden werden kann. In der Folge erhielt ich Gelegenheit, ihn mit der russischen Rechenmaschine bekannt zu machen, mittels welcher besonders die beiden ersten Rechnungsarten, das Zusammenzählen und Abziehen, sehr einleuchtend sind und auch in großen Zahlen leicht von statten gehen. Beide Maschinen geben Veranlassung und Einleitung zum Kopfrechnen, wozu die Blinden überhaupt, wegen weniger Zerstreuung und ihrer Neigung zum Denken, gute Anlagen haben. Die im gewöhnlichen Leben vorkommenden einfachen und Verhältnisrechnungen, werden von meinem Zögling ohne Schwierigkeiten im Kopfe aufgelöst. Zu Auflösung größerer Rechnungsaufgaben bediene ich mich erhabener Zahlen, welche, auf einer Rechentafel zusammengesetzt werden.

Besonders schnell waren die Fortschritte, welche der blinde Zögling in Kenntnis und Orientierung auf der Landkarte gemacht hat. Ich ließ zu diesem Ende auf gewöhnliche Landkarten die Grenzen der Länder und die Städte erhaben zeichnen und ebenso die Flüsse, Seen und Gebirge mit fühlbaren Zeichen versehen. Diese Karten leisten ihm nun durchs Befühlen ganz die nämlichen Dienste, wie sehenden Kindern, und die Sache ist dabei noch für ihn sehr interessant und unterhaltend. Um die Lage der Länder nach den Weltgegenden bestimmen und sich selbst an jedem Orte orientieren zu können, wurde eine Magnetnadel für ihn so zubereitet, dass er durch leises Anfühlen die Richtung derselben leicht erkennen kann. Auf einer gewöhnlichen Pendeluhr sind die Stundenzahlen erhaben gezeichnet und vermittelst dieser und des Standes des Minutenweisers, kann er jede verlangte Zeit beinahe auf die Minute angeben. Ein Kalender mit erhabener Schrift, welcher ganz wie ein gewöhnlicher Kalender eingerichtet ist, dient ihm dazu, alle dabei vorkommenden Fragen und Aufgaben, richtig und schnell aufzulösen.

Durch diese und andere mit ihm angestellte Übungen und Proben bin ich vollkommen überzeugt geworden, dass blinde Kinder in allen wissenschaftlichen Lehrgegenständen, diejenigen allein ausgenommen, welche sich unmittelbar und ausschließend auf Farben und Lichtstrahlen beziehen, unterrichtet werden können, und dabei ihnen ein Haupthindernis des Unterrichts, Zerstreuung und Abziehung der Aufmerksamkeit auf fremde Gegenstände, ganz wegfällt, so wären von manchen bei gehöriger Anleitung ausgezeichnete Fortschritte zu erwarten. Bei der Geschichte, Naturgeschichte, Zeitrechnung kann durch handgreiflich eingerichtete Tabellen dem Gedächtnis zu Hilfe gekommen werden.

Ich habe bereits mit erhabenen Buchstaben eine Tabelle zur Geschichte zusammengesetzt, welche mir zu einem Leitfaden bei dem Unterrichte meines Zöglings und ihm zum Ordnen und Aneinanderreihen der einzelnen Stücke aus der Geschichte, welche ihm vorgelesen oder erzählt werden, dient. Diese Tabelle enthält fünf Kolonnen, nämlich:
1. Zeitrechnung
2. merkwürdige Begebenheiten
3. Hauptvölker
4. Große Männer
5. Erfindungen
Die letzte Rubrik gibt besonders häufig Veranlassung ihm Begriffe von Gegenständen, die im gemeinen Leben vorkommen, beizubringen, oder das, was er davon schon weiß, zu ergänzen.

In der Geometrie können die Linien, Winkel und Figuren auf eben die Art erhaben und fühlbar gemacht werden, wie die Umrisse der Länder auf der Landkarte. Ebenso wenig Schwierigkeiten finden sich beim Gebrauch des Zirkels, Transporteurs, verjüngten Maßstabes, der künstlichen Erde- und Himmelskugel, und anderer mathematischer und physikalischer Instrumente und Maschinen, welche durch kleine Änderungen zu diesem besondern Gebrauch geschickt gemacht werden können.

Durch den musikalischen Unterricht, welchen er auf der Harfe, der Gitarre, dem Klavier und im Singen erhalten, hat er mehrere Stücke mit ziemlicher Fertigkeit spielen gelernt. Um ihm die Theorie der Noten beibringen zu können, wurden auf ein Brett fünf gleichlaufende Linien die Noten mit eingeschlagenen messingenen Nägeln, der verschiedene Wert derselben aber durch kleine Querstriche von Draht bezeichnet. Um ganze Musikstücke für ihn lesbar zu machen, werden mit einer die Form derselben enthaltenden stählernen Bonze ausgeschlagen und aufgeleimt und ebenso die übrigen musikalischen Zeichen von Kartenpapier ausgestochen und gehörigen Orts eingesetzt, sodass diese Notenstücke, den gewöhnlichen geschriebenen Noten ganz ähnlich sind. Sie dienen dem Blinden dazu, ein ihm aufgegebenes Musikstück einzuüben, andern Blinden, oder auch Sehenden musikalischen Unterricht zu erteilen, und allenfalls auch Versuche im Selbstkomponieren zu machen.

Als eigentliche Handarbeit hat er anfänglich das Schnürklöppeln, das Netzen von Vogel- und Fischergarn und das Stricken gelernt, welches er alles ganz geläufig verrichtet. (In der Folge legte er sich auf das Korbflechten, das Drehen von Holz und die Tischlerarbeit, worin er es soweit gebracht hat, dass solche kleine durch ihn verfertigte Gegenstände von feinem polierten Holz als Merkwürdigkeiten, durch die das Institut besuchende Fremde, allenthalben hin verbreitet sind. Aber er macht auch gewöhnliche Gegenstände von Holz als: Tische, Stühle, Bettstellen, Kästen, und verrichtet überhaupt alle in dem Hause vorkommenden Tischlerarbeiten und Reparationen. Die Verfahrungsart bei diesen Arbeiten, zu welchen der Gesichtssinn unentbehrlich scheint, und die dazu zum Teil eigens eingerichteten Werkzeuge sind umständlich beschrieben in dem von mir herausgegebenen "Lehrbuch zum Unterricht der Blinden", mit Kupfern. Wien 1819).

Zur Abwechslung und Unterhaltung für ihn, habe ich ihm Anleitung gegeben, allerhand Dinge aus Papier und Pappdeckel zu machen, und er hat es darin soweit gebracht, dass die von ihm verfertigten Sachen nicht für Arbeiten eines Blinden gehalten werden, und manche darunter durch Nettigkeit und gutes Ausleben sich besonders empfehlen. Er macht Brieftaschen, Schachteln, Federröhre, Nadelbüchschen, Körbchen, Schreibzeuge, und fast jede andere Arbeit von Pappe. Er richtet sich dabei nach besonders dazu verfertigten Mustern und ausgeschnittenen Netzen, und nach den einzelnen Handgriffen, die ihm bei jeder dieser kleinen Arbeiten gezeigt worden sind.

Zum Zusammenfügen und Überziehen der Papparbeiten gebraucht er sogenanntes Leimpapier, welches auf einer Seite mit dünnem Leim bestrichen und wieder getrocknet ist, beim Gebrauche aber auf der Leimseite mit einem feuchten Schwamme benetzt wird, wodurch die Arbeiten des Blinden nicht nur reinlicher als mit Kleister, sondern auch dauerhafter werden.

Das Überziehen mit farbigem Papier machte ein Hilfsmittel nötig, ihm die Beschaffenheit und Farbe dieses Papiers kennbar zu machen. Das einfärbige, gestreifte, marmorierte, geblümte wurde jedes in eine besondere Papiertasche gelegt und diese mit einem fühlbaren Buchstaben bezeichnet, um aber die Art und Farbe eines jeden Blattes kennbar zu machen, erhielt jeder Bogen an einer Ecke ein besonderes bestimmtes Zeichen mit Ausschnitten, deren Anzahl immer seine eigene Bedeutung hat.

Es würde zu weitläufig sein, die vielen kleinen Handgriffe und Hilfsmittel, durch deren vereinigte Anwendung das edle Organ des Auges soweit als möglich ersetzt wird, hier einzeln zu beschreiben; manches davon wird auch nur durch den Augenschein ganz deutlich. Man denke nur nicht, dass solches mit vielen Weitläufigkeiten, Zeit- und Kostenaufwand verbunden, oder viel Aufsicht von Sehenden dazu erforderlich seie. Bei gehöriger Einleitung verfertigt sich der Blinde die zu seiner Erleichterung bestimmten einfachen Vorrichtungen selbst; sind ihrer mehrere, so arbeitet einer dem andern in die Hände, und zwei gesunde Augen sind hinreichend, um 20 und mehr Blinde in beständiger Geschäftigkeit zu erhalten, weil die nötigen Auskünfte über die Farbe oder über den Ort, wo sich ein verlangter Gegenstand befindet, fast immer mit einem einzigen Worte zu erteilen sind.

Aus: BBInfo 2/2003
Weitere ausgewählte Beiträge aus dieser Zeitschrift finden Sie im BBInfo Archiv auf der Homepage des Bundes-Blindenerziehungsinstitutes, Wien.

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Erstellt am Fr, 31.10.03, 09:15:19 Uhr.
URL: http://anderssehen.at/alltag/berichte/blindenb2.shtml

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