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"Katharsis" oder "das göttliche Prinzip"

Immer ist von Weih-NACHTEN die Rede und der Mensch fiebert dem Datum mehr oder weniger begeistert entgegen. Hängt ihm dann endlich die Feier und auch noch ein Stück Gänsekeule zum Halse raus, ächzt er: "Es ist vollbracht!".

Eines Jahres dämmerte mir, dass die nächste VORweihnachtszeit ja schon am 25. Dezember anfängt und das haute mich um. Meine Haupt- und Nebenhöhlen füllten sich, und ich hatte die Nase gestrichen voll.

Dumpf in meiner schnupfigen Birne rumorte der Gedanke, wie ich denn anders damit umgehen könnte. Ausschlaggebend war der Heilpraktiker, vor dem ich hilfeheischend mit wässrigen Augen saß und nach Luft schnappte. Er lachte mich freudig an und juchzte: "Ah, Katharsis, eine Reinigung!!!" Ich trötete zustimmend in mein Taschentuch und trollte mich.

Sollte sich in meinem Inneren eine Reinigung abspielen? ... alles Überflüssige sich lösen und dann eine "Essenz" übrig bleiben? ... und wenn JA welche? Auf diese positive Art hatte ich noch nie einen Schnupfen gesehen, und mir kam die Idee, die Katharsis auch auf meine Wohnung zu übertragen. Wenn schon, denn schon... Und ich fing an, alles aus den Regalen zu holen, zu betrachten, Schubladen zu öffnen, Ausgrabungen unter meinem Bett zu vollziehen. Ich fand Unmengen von Stiften, Malpapiere, Dosen, Bücher, Wäsche, Spiele, Bastelkram... Viele Erinnerungen und alte Bilder kamen mir in den Sinn und in der Mitte meines Zimmers türmte sich ein Berg Gemischtes. Wohin damit?

"Bescherung" kam mir in den Sinn, und ich baute vor meiner Wohnungstür einen kleinen Tisch auf, auf dem ich alles hinstellte, mitsamt einem Schild "zu verschenken". In unseren Wohnblock mit 16 Familien kam Bewegung. Ich hörte es klimpern, wühlen, Tüten rascheln, Türen klappern. Kommentare auf Russisch, Deutsch und Arabisch.

Die Zeit und mein Schnupfen flossen dahin und mich hatte die Katharsis voll gepackt. Mit System ging ich die Zimmer und Schrank für Schrank durch. Ich hatte das Gefühl, das Zeug wächst in den Regalen nach. Mittlerweile hatte sich die Aktion bis ins Erdgeschoss rumgesprochen. Ninorta und Ninive, zwei iranische Mädchen, standen mit Tüten vor meiner Tür, um gleich größere Mengen abschleppen zu können. Pfiffige Mädels.... Auch aus dem Nachbarhaus kamen Mädchen, die meinen Kellerschlüssel verlangten. Sie wollten mal gucken, ob sie da auch noch was brauchen könnten. Ich machte ihnen klar, dass alles zum verschenken VOR der Tür steht und alles DAHINTER mir gehört.

Ich glaube, ich habe zwei Wochen gewühlt und erstaunt festgestellt, dass nun plötzlich Nachbarn grüßten, die mich 8 Jahre lang ignoriert hatten. Irgendwie hatten die was Heiteres bei meinem Anblick, und das ist bis heute geblieben.

Seit drei Jahren steht nun mein kleiner Geschenketisch vor der Wohnungstür. Da ich mittlerweile zur Recyclingfrau avanciert bin, fließen die Waren durch meinen Haushalt. Kleidung und Stofftiere für Campus für Christus und Flohmarktsachen für den Verkauf der Diakonissen, auch privat wird getauscht. Meine Wohnung ist der zweitgrößte Umschlagplatz nach der Pirateninsel Tortuga, und so steht immer wieder was draußen. Meine Nachbarn haben einen feinen Instinkt entwickelt, ob ich die Tür öffne, um einfach nur rauszugehen, oder ob ich was ablege. Eines Tages hatte ich einen Berg Computerbücher aufgetürmt, die nach einer halben Stunde weg waren. Wie es der Zufall wollte, saß der Nachbar mit einem neuen alten Programm vor seinem PC und hatte keine Bücher dazu. Die fand sein Lebensgefährte vor meiner Tür. Weihnachten mitten im Jahr für Heiko. Oder die sieben blauen Säcke voll Kleidung. Ich lud Freundinnen ein, kochte Tee, und im Laufe des Nachmittags dezimierte sich der Bestand auf zwei Säcke. Mein Nachthemd war allerdings auch weg, da ich es nicht weggeräumt hatte. Nach einigem Nachfragen bekam ich es wieder.

Im Laufe der Zeit hat sich das Miteinander im Hause verändert. Es wird Gemüse geteilt, mehr miteinander geredet, abgesprochen.... Jobs vermittelt, eingeladen!

Ich kann mich mittlerweile gut von Sachen trennen, da ich die Erfahrung gemacht habe, immer zur rechten Zeit das zu bekommen, was ich brauche und noch viel mehr als das. Gott scheint Freude an meiner Freude zu haben. Ich fühle mich gut versorgt. Heute kam ein wunderbarer Rattanblumenständer zu mir. Bei mir ist jeder Tag ein Weih-TAG, und ich bin eifrig dabei das göttliche Prinzip des Geben und Empfangens zu zelebrieren. Wenn wir uns etwas mit Geld KAUFEN, dann geht es um den GELDwert, und wir kommen in eine Schuld. Was gibst du mir, was schulde ich dir? Dann kauft man sich "frei". Bei dem Geben und Empfangenprinzip wird einfach was in Umlauf gebracht und ich erwarte nichts von meinem Gegenüber. Ich zeige mich mit meinen Sachen und erfahre was über die Vorlieben meiner Nachbarn. Es entstehen Beziehungen. Ich werde täglich überrascht und das im Positiven.

Es ist ungewohnt und Anfangs vielleicht sogar befremdlich, aber ich möchte Mut machen zum Miteinander bei ganzjährlichen Weih-TAGEN und wünsche für das Jahr 2007 "schöne Bescherung".

Aus Tortuga grüßt Ulrike Geilfus

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© 2006 by Ulrike Geilfus
Erstellt am Do, 14.12.06, 10:46:09 Uhr.
URL: http://anderssehen.at/alltag/berichte/katharsis.shtml


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