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Eine Modeschau der besonderen Art

(Agnes Zorn organisierte für den 14. Juni dieses Jahres im LOUIS BRAILLE HAUS eine Modeschau der besonderen Art für blinde und sehbehinderte Menschen. Welche Bedeutung hat Mode in unserer Zeit?)

Tausende Hochglanzbroschüren, unzählige Fernsehsendungen, Veranstaltungen, die mit enormem finanziellen und personellen Aufwand gestaltet werden, widmen sich dem Thema "Mode". Im allgemeinen wird "Mode" dabei auf Bekleidung beschränkt, im weiteren Sinne kann sie aber auch Accessoires, Autos, Urlaub, Wohnen, kurz den gesamten Lebensstil ("Lifestyle") umfassen.

Ein Zeitgenosse, der das Treiben aus einiger Distanz beobachtet, kommt nicht umhin den Kopf zu schütteln und sich dabei zu fragen: "Was müssen diese Leute, die Modeschöpfer und das Publikum, für Zeit und Geld haben, um sich solchen Spielereien und Zerstreuungen zu widmen? Wie eine niemals stillstehende Maschine wird der Motor um neue Stile und neue Nuancen immer wieder angetrieben. Wer denkt sich das alles aus? Und weshalb müssen alle Menschen, wollen sie in der Gesellschaft etwas gelten, diesen Trends mehr oder weniger folgen?"

Wer bei Mode nur an Vergnügen, Zerstreuung und die Freude an neuen Farben, Stilen und Materialien denkt, sieht nur oder möchte nur eine Seite der Medaille sehen. Was nicht verwundert, denn die andere Seite ist die der harten sozialen Realität, die sich über Mode ausdrückt.

Um dem Ursprung der Mode auf die Spur zu kommen, muss man dort ansetzen, wo alles seinen Ausgang nahm: beim nackten menschlichen Körper. Wären alle Menschen nackt oder nur sehr spärlich bekleidet, gäbe es nur wenige Unterscheidungskriterien untereinander. Alt oder jung, Frau oder Mann, groß oder klein, dick oder dünn wären grob zusammengefasst Merkmale, die man auf den ersten Blick erkennen könnte. Es sind dies oberflächliche Beschreibungen, die keinen Rückschluss auf Selbstbild (Identität), sozialen Rang (Status), bestimmte Vorlieben und Einstellungen zulassen. Könnten wir uns aber am Aussehen unserer Mitmenschen nicht orientieren, wäre das Zusammenleben höchst kompliziert. Jeder Mensch wäre im Kontakt zum nächsten immer wieder aufs neue gezwungen, die Position des anderen herauszufinden, weil es keine äußeren Anhaltspunkte gäbe. Das ist auch der ideologische Aspekt der Freikörperkulturbewegung (FKK-Bewegung): nicht ein aufgezwungener Status, der sich an äußeren Merkmalen orientiert, soll das Zusammenleben unter den Menschen regeln. Die Menschen sollen in einer "natürlichen Art und Weise" zueinander finden.

Der entgegengesetzte Pol zur Nacktheit wäre die "Uniform", die den Träger klar ausweist. Die Identität, die Zugehörigkeit zu einer Gruppe, wäre offen gelegt und der Status durch Rangabzeichen belegt. Beiden Ausdrucksformen - "Nacktheit" wie "Uniform" - ist eines gemeinsam: sie sind starr und kaum veränderbar; also genau entgegengesetzt zum steten Wandel der Mode, deren wichtigstem Charakteristikum.

Ein historisches und zwei gegenwärtige Beispiele sollen die Bedeutung der Mode und deren steten Wandel erklären.

Die Kategorie "Mode" wurde im Zeitalter des Absolutismus aus dem Französischen übernommen (im 17. Jahrhundert, davor schon "alamodisch" und anfangs häufiger noch "Alamode" vom frz. "â la mode"; "mode" wiederum [lat. "modus"] bezeichnet "Art und Weise" [zu leben]).

Diese Bezeichnung wurde gewählt, weil damals eine wesentliche und bedeutende Entwicklung in der Mode von Frankreich ausging. Vor allem seit Ludwig XIV. war der aristokratische und großbürgerliche Geschmack international von dem des französischen Hofes bestimmt. Aufgrund wirtschaftlicher Umwälzungen verarmte der französische Landadel mehr und mehr und musste, um zu überleben, an den Hof des französischen Königs übersiedeln. Die Adeligen erhielten als wirtschaftliche Basis Leibrenten, waren aber darüber hinaus auf die Gunst des Königs angewiesen, um die sie untereinander konkurrierten. Die Adeligen mussten zwar nicht arbeiten, kontrollierten und bespitzelten einander aber Tag und Nacht gegenseitig, um dem König Informationen über ein Fehlverhalten des anderen zuzutragen. Macht und Geld hingen vom richtigen Verhalten und von der richtigen Präsentation der eigenen Person ab.

So schreibt der Soziologe Norbert Elias in seinem Werk "Die höfische Gesellschaft" auf Seite 344: "Um sich Platz und Geltung in der heftigen Geltungs- und Prestigekonkurrenz des Hofes zu bewahren, um nicht dem Spott, der Missachtung, dem Prestigeverlust ausgesetzt zu sein, musste man das eigene Aussehen und Gebaren, kurzum sich selbst, den fluktuierenden Normen der Hofgesellschaft unterordnen, die die Besonderheit, die Distinguiertheit der zur höfischen Gesellschaft gehörenden Menschen im wachsenden Maße hervorheben. Man musste bestimmte Stoffe und bestimmte Schuhe tragen. Man musste sich in ganz bestimmter, für die zur Hofgesellschaft gehörenden Menschen charakteristischen Weise bewegen. Selbst das Lächeln wurde vom höfischen Gebrauch geformt."

Der ständige Konkurrenzkampf, die Unsicherheit und Zerbrechlichkeit der Beziehungen und die Abhängigkeit vom König schufen eine enorme Dynamik, die u.a. in immer neuen Modewellen zum Ausdruck kam. Der Sinn der Mode lag im ständigen Konkurrenzkampf der Adeligen untereinander, aber auch in der Abgrenzung nach außen, gegenüber dem Bürgertum. Dieses war zwar vom Hof ausgeschlossen, verfügte jedoch über die finanziellen Mittel die Modetrends des Hofes zu übernehmen und nachzuahmen und sich so zumindest rein äußerlich dem Adel anzugleichen, um auch zur feinen Gesellschaft zu gehören. Mandeville, ein 1670 in Holland geborener Arzt, zeichnet in seiner 1714 erschienenen ""Bienenfabel" eine regelrechte Verfolgungsjagd der Distinktion zwischen Großbürgertum und Adel:

"... die Damen von Stand erschrecken darüber, die Kaufmannsfrauen und -töchter ebenso angezogen zu sehen wie sich selbst. Die Dreistigkeit der Städter, schreien sie, ist unausstehlich. Damenschneider werden herzugeholt, die sich mit allem Eifer der Erfindung neuer Moden widmen müssen, damit sie jederzeit etwas noch nicht Dagewesenes haben, sobald die frechen Spießbürger wieder anfangen, es den Adeligen nachzutun. Der gleiche Wetteifer verbreitete sich über alle Rangstufen in unglaublichem Maße, bis zuletzt den hohen Fürstlichkeiten samt allen Hofschranzen nichts übrig blieb, als massenhaftes Geld für kostbare Gewänder, herrliche Möbel, prächtige Gartenanlagen und fürstlich ausgestattete Paläste auszugeben ..."

Adelige und Bürger unterwarfen sich freiwillig dem Modediktat.

Eine vollkommen neue Dimension erhielt die Mode mit der Einführung der industriellen Massenproduktion und des weltumspannenden Kapitalismus. Für den Absatz der Massenproduktion waren die Zielgruppen Adel und Großbürgertum viel zu klein. Der Wandel der "Mode" musste jetzt möglichst viele Menschen als Konsumenten erfassen; auch Angestellte und Arbeiter. Die große Schwierigkeit der Massenerzeugung ist es, für die Zukunft produzieren zu müssen, ohne diese wirklich vorhersehen zu können. Deshalb wird im Sommer die Winterkollektion und im Winter die Sommerkollektion präsentiert. Woher übernimmt die Massenproduktion aber die Impulse für neue Modetrends?

Gerade von jenen Gruppen, die (etwas) außerhalb des gesellschaftlichen Spektrums stehen. Beispielsweise den Afro-Amerikanern, die in den Ghettos amerikanischer Großstädte wohnen, von der Jugend- und Homosexuellenkultur.

Die jugendlichen Afro-Amerikaner entwickelten eine eigene Mode, um sich als Außenseiter eine eigene Identität zu schaffen: extrem weite Hosen, T-Shirts und Pullover in Übergrößen, bunte und wuchtige Turnschuhe, die offen und ungeschnürt getragen werden, Baseballkappen oder sonstige Mützen, die auch bei großer Hitze getragen werden (Schlabberlook), etc. Diese Mode wurde von der Industrie aufgegriffen, massenhaft produziert, unter den Jugendlichen der Mittelschicht mit dem Image des "Außenseiters", wie sich viele Jugendliche auch tatsächlich fühlen, stark beworben und daraufhin massenhaft abgesetzt.

In der heutigen Jugend- und Homosexuellenkultur herrscht eine ähnliche Dynamik vor wie seinerzeit am französischen Hof. Die Unsicherheit und Zerbrechlichkeit zwischenmenschlicher Beziehungen, der Druck von der Mehrheitsgesellschaft und der gleichzeitige Wunsch sich von dieser abzugrenzen, schaffen eine Modewelle nach der anderen. Die Mehrheitsgesellschaft schaut fasziniert auf diese Subkulturen mit ihrem enormen Tempo, gewaltigem Druck sowie wechselnden zwischenmenschlichen, sexuellen Beziehungen. Sie übernimmt die Moden dieser Gruppen in der Hoffnung, ein wenig von deren Lebensgefühl auf sich übertragen zu können. Hat dann die Mode, dank der Massenproduktion und der Werbung in der Mehrheitsgesellschaft Fuß gefasst, müssen die Subkulturen wiederum neue Akzente setzen, um untereinander zu konkurrieren und um sich von den anderen zu unterscheiden.

Natürlich verfügt auch die Oberschicht über ihre "Insignien der Macht", wie sie früher die Könige hatten, und denen die Mittelschicht nacheifert, um zu erkennen zu geben: "Auch ich gehöre zur besseren Gesellschaft!" Die Oberschicht drückt sich aber mehr in feinen Accessoires oder einem bestimmten Lifestyle (z.B. besondere Schulen für die Kinder, besondere Urlaubsorte, besondere Vorlieben wie Weinkunde etc.) aus als in eigenen Modetrends, was sie für die industrielle Massenproduktion nur bedingt interessant macht.

Dem französischen Hof Ludwig des XIV. entsprechen in unserer heutigen Zeit am ehesten die großen Modehäuser dieser Welt, wie "Christian Lacroix" oder "Chanel", die in eigenen Hofstaaten, bestehend aus Supermodels, Geldgebern, Publikum, Schneidern etc., die Mega-Trends für Kleidung und Körperkult unserer Zeit setzen.

Welchen Stellenwert hat Mode nun für blinde und sehbehinderte Menschen? Weshalb sollen sich überhaupt blinde und sehbehinderte Menschen mit Mode befassen, wo sie sich doch selbst mit anderen aufgrund des fehlenden Sehsinns unmittelbar gar nicht vergleichen können?

Das gesellschaftliche Vorurteil gegenüber blinden Menschen könnte folgendermaßen lauten: "Aufgrund ihres fehlenden Sehsinns hätten blinde und sehbehinderte Menschen keinen Bezug zur optischen Welt. Einen blinden bzw. sehbehinderten Menschen kann man oberflächlich daran erkennen, dass seine Kleidung im besten Fall schlicht und altmodisch ist und den Modetrends nicht entspricht, im schlechtesten Fall farblich unpassend und falsch kombiniert ist."

Ist Blindheit das medizinische Stigma, so ist die schlechte, unangepasste Kleidung das soziale Stigma des blinden Menschen schlechthin. Dieser gesellschaftlichen Stigmatisierung versuchen nun blinde und sehbehinderte Menschen zu entgehen, indem sie sich wie die Mehrheitsgesellschaft kleiden, um so zu signalisieren: "Ich bin zwar sehbehindert, aber ansonsten bin ich ganz normal wie Du und gehöre auch dazu."

Dieses Bestreben ist mit einigem personellen und finanziellen Aufwand verbunden. Vor allem benötigen blinde und sehbehinderte Menschen die Unterstützung sehender Mitmenschen (beispielsweise eines sehenden Partners), die sie bei der Auswahl der richtigen und passenden Kleidung beraten. Sie können nicht zu billigen Kleiderdiskontern gehen um einzukaufen, sondern müssen besondere Geschäfte aufsuchen, in denen sie für ihre speziellen Bedürfnisse gut beraten werden.

Ein besonderes Beispiel dafür ist unser Obmann Friedrich Zorn, der gemeinsam mit Gattin Agnes die Herausforderung angenommen hat, sich seiner Person entsprechend und dem jeweiligen Modetrend passend zu kleiden. Agnes ist dabei unaufhörlich auf der Suche nach den richtigen Geschäften für ihren Mann, aber auch für die Mitglieder unserer Lgpp, in denen die Verkäuferinnen sich gut ausdrücken können, sich mehr Zeit für die Beratung nehmen und die Ware ausgiebig begutachtet werden kann.

Ein solches Geschäft, "Unser Laden", im 16. Wiener Gemeindebezirk, Wattgasse 8, veranstaltete auf Initiative von Agnes Zorn eine Modeschau im LOUIS BRAILLE HAUS, bei der die Modelle von sehenden und blinden Models vorgeführt wurden. Dabei konnten unser Mitglied Waltraud Ceredi und die quirlige Verkäuferin Conny von der Boutique "Unser Laden" als Models von den blinden Besuchern "betastet" werden. Auf diese Art ließen sich sehr gut Materialien und Schnitte erfühlen. Um auch Farben und das Gesamtbild ganzer Kombinationen erfassen zu können, wurden die Modelle von einer Moderatorin beschrieben, die mit Hilfe von Analogien die jeweiligen Stimmungen vermittelte. So erklärte sie zarte Pastellfarben wie einen Spaziergang über eine frische, morgendliche, taubedeckte Wiese. Dünklere Farbtöne verglich sie mit einem Besuch in einer Nachtbar, bei der im Hintergrund Klaviermusik gespielt wird. Die Besucher waren begeistert. Die Veranstaltung war ein Riesenerfolg, sodass sie im Herbst wiederholt wird.

Mode bedeutet auch für blinde und sehbehinderte Menschen eine starke Ausdrucksform ihrer Identität und ihres Status in der Gesellschaft. Sie können damit ihre Zugehörigkeit oder aber auch ihr Außenseitertum zur Mehrheitsgesellschaft zum Ausdruck bringen.

Die nächste Modeschau der Boutique "Unser Laden", Wien 16, Wattgasse 8, findet am 25. Oktober 2000 im LOUIS BRAILLE HAUS statt. Alle Leser sind dazu herzlich eingeladen.

Mag. Liliana Prerowsky

Aus: "Mitteilungen des Österreichischen Blinden- und Sehbehindertenverbandes", 53. Jahrgang/2000 Nummer 3/Juli bis September
Veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung der Autorin

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Erstellt am Di, 07.11.00, 07:58:54 Uhr.
URL: http://anderssehen.at/alltag/berichte/mode.shtml