Ich arbeite unter Anderem auf zwei hämatologischen Stationen. Dort liegen, wie der Name schon sagt, Patienten, die mit Erkrankungen der Blutzellen zu tun haben. Viele haben verschiedenste Arten von Leukämie, oder Osteoblastome, oder Osteosarkome. Ganz grob zusammengefasst, Arten von Krebs, die mit Blutzellen zusammenhängen. Viele liegen sehr lange bei uns, oder kommen sehr lange immer und immer wieder, mit "zu-Hause-Pause" dazwischen.
Aufgrund der entweder durch den Krebs, oder durch die Chemotherapie verursachten Begleiterkrankungen und -symptome, gibt es hier für Masseure und Physiotherapeuten genug Arbeit. Einige Patienten müssen bewegt werden, sich selbst bewegen, oder dabei angeleitet werden, je nach Zustand. Andere müssen einfach "nur" gehen. Sie können oder sollen oder wollen das nicht mehr allein. Dazu kommen Lymphdrainagen, oder Massagen, oder Atemübungen.
Nun liegt er also mal wieder auf unserer Station. Schon ein alter Bekannter. Bei der Art von Krebs, die er hat, ist das auch leider kein Wunder. Da hat man bei uns schon ein Dauerjahresabo, wenn auch natürlich nicht freiwillig. Er lag im letzten Jahr, mit Unterbrechungen, insgesamt fast 9 Monate im Krankenhaus. Davon auch eine lange Zeit bei uns. Jetzt kommt er jedoch nur noch kurz, um sich seine Chemotherapie abzuholen. Die verträgt er gut und ist deshalb immer schnell wieder weg, um einige Tage nach Beendigung des Zyklus Chemotherapie noch mal kurz mit einem kleinen Fieber bei uns vorbei zu schauen. Aber danach hat er, bis zur nächsten Chemo, Ruhe von uns.
Ich mag ihn und freue mich, dass wir ihn bei einem seiner letzten Aufenthalte für die Krankengymnastik teilweise in der orthopädischen Abteilung unterbringen konnten. Wegen einer Metastase hat er dort nämlich ein künstliches Hüftgelenk bekommen. Die Gelegenheit haben wir genutzt, um uns von da an, immer wenn er wieder da ist, mit der Krankengymnastik abzuwechseln. Nun bin also immer einmal ich dran, und am nächsten Tag die in der Orthopädie. Klappt prima. Wir haben nämlich weder eigene Geräte, noch eine Behandlungsbank und behandeln deshalb überwiegend bettlägerige Patienten. Das ist jedoch nicht das, was er braucht. In der Orthopädie kann er krankengymnastisch besser betreut werden.
Leider hat er auch noch einen Tumor, der ihm aufs Rückenmark drückt. Dadurch ist er teilweise querschnittsgelähmt.
Als er das letzte Mal bei uns war, hat ihn immer eine Kollegin von mir mit dem Rollstuhl in die Orthopädie gefahren. Er ist jetzt jedoch ziemlich fit. Wir besprechen Termine und Transport und er meint, er könne diesmal allein rüber fahren. Ich habe keine Bedenken. Er ist sehr kräftig und vor allem geistig fit. Und selbst wenn er es nicht schaffen sollte und irgendwo vor dem Eingang an der Rampe scheitern würde, dann wäre er in der Lage, sich Hilfe zu organisieren.
Aber wir haben nicht mit der Besorgnis der Krankenschwestern gerechnet. Als ich am nächsten Tag auf die Station komme und mir bei einer Krankenschwester wie üblich Informationen über meine Patienten hole, spricht sie mich auf ihn an.
"Ja", unterbreche ich ihre Frage, "der hat gleich drüben in der Orthopädie einen Termin. Aber der fährt allein." Aber genau das soll er, wenn es nach der Krankenschwester geht, eben nicht. So! und jetzt? Meine Kollegin erreiche ich nicht, um einen Transportdienst zu bestellen ist es zu spät und die Schwestern weigern sich, ihn zu begleiten, aus Zeitgründen. Ich versuche es noch mal mit logischen Argumenten und verweise auf seinen Gesundheitszustand. Doch Logik hilft hier nicht. Sie haben Angst, er könne evtl. nicht die Kraft haben, die Schräge vor dem Eingang hinaufzufahren. Erstens kann ich mir das nicht vorstellen. Er gehört zu den Menschen, die sich gut einschätzen können. Und zweitens: Selbst wenn er die Schräge nicht rauf kommt, da draußen kommt alle Augenblicke lang Jemand vorbei, der ihn da mal kurz hochschieben könnte.
Es hilft alles nichts. Er darf nicht fahren, jedenfalls nicht allein. Ab Morgen dürfe er ja, meint die Krankenschwester bestimmt, aber für's erste Mal ließe sie ihn nur in Begleitung fahren, zur Absicherung. Es gibt aber keinen, der ihn, überflüssigerweise zu ihrer Beruhigung, begleiten könnte. Die Einzige, die Zeit hätte und da ist, bin ich. Aber ich bin vollblind und kann ihn daher wohl schlecht schieben. Schieben kann ich natürlich. Aber wohin? Denn ich kenne zwar die paar Gebäude, in denen sich unsere Stationen befinden, habe jedoch keinen blassen Schimmer, wo die Orthopädie sein soll. In dem Haus hatte ich nämlich noch nie zu tun.
Das ist für die Krankenschwester ohne Bedeutung. Mit mir als Sicherheitsbegleitung darf er fahren. Ich verstehe sie nun überhaupt nicht mehr, denn etwas Unsichereres, als mit einer Vollblinden, die zudem noch den Weg nicht kennt, durch die Gegend zu rollen, kann es doch gar nicht geben. Aber auch hier versagt die Logik. Noch unentschlossen, ob mich ihr Vertrauen ehrt, oder ob ich mich ärgern soll, gehe ich zu dem Patienten und erkläre ihm die Sachlage. Nein, die irrationalen Bedenken. Denn mit Sachlage und Logik hat das ja nun wirklich nichts mehr zu tun.
Zum Glück bleibt wenigstens er logisch. Er hat drüben einen Termin und will hinfahren. Er kann auch, aber allein lässt man ihn nicht. Außer mir ist keiner da der bereit ist, mitzugehen, also fährt er halt mit mir. Na toll! Bereit bin ich auch nicht, aber es bleibt wohl nichts anderes übrig. Weil wir uns nicht aufregen wollen, müssen wir lachen. Über die krankenschwesterliche Sorge, über die Situation, über uns und überhaupt.
"Sie tun einfach, als seien sie gar nicht da.", erklärt er, "Ich fahre und Sie laufen einfach neben her."
"Auf keinen Fall!", lehne ich ab, "Dann weiß ich ja gar nicht mehr, wohin. Nee, mit dem Rollstuhl sind Sie doppelt so breit, wie ich, Ich bleibe schön hinter Ihnen. Wo Sie durchkommen, passe ich dann auf jeden Fall auch durch. Sie müssen bloß bitte daran denken, dass ich stehend ja höher bin, als Sie im Sitzen." "Ach so! dann begleite ich Sie?" Meint er fragend amüsiert und muss wieder lachen. Ich lache auch und nicke. Den nochmaligen ausdrücklichen Hinweis darauf, dass ich, im Gegensatz zu ihm, den Weg nicht weiß, verkneife ich mir. Das ist ihm wahrscheinlich inzwischen sowieso klar, und wenn nicht, auch egal.
Ich besorge einen Rollstuhl. Der Stationsrollstuhl ist kaputt. Also gehe ich eine Etage tiefer. Dort steht ein intakter Rollstuhl. Den nehme ich mit. Natürlich schaue ich brav am Stationszimmer vorbei und gebe Bescheid, dass und wofür ich den Rollstuhl brauche. Sofort werde ich darauf hingewiesen, dass ich den aber zurückbringen solle, und bitte mit den Fußstützen.
Ach nee! Eigentlich wollte ich denen klauen. Wenn nicht den Rollstuhl, dann doch wenigstens die Fußstützen. Die sind handlich genug, um sie in meine Sammlung geklauter Gegenstände an die Wand zu hängen. Ich habe ja auch sonst nichts im Wohnzimmer.
Das denke ich jedoch nur. Laut sage ich: "In Ordnung.", und überlege dann, welchen Sinn es wohl hätte, extra laut Bescheid zu sagen, wenn ich danach vorgehabt hätte, den Rollstuhl zu klauen. Zumal mich die Pflegekräfte dort ja kennen. Diese Station betreue ich krankengymnastisch nämlich auch. Ein Pfleger rettet mich: "Der Stuhl ist bestimmt für Herrn S.?" Ich nicke. "Ach, dann kriegt ihr den auf jeden Fall wieder. Der kümmert sich schon darum. ..." Mehr höre ich nicht, denn ich überlasse ihm die weitere Erklärung und verschwinde schnell mit dem Rollstuhl im Fahrstuhl.
Wieder im Zimmer angekommen, will ich die eine Seitenlehne abbauen, damit er einsteigen kann und ihm helfen, darf aber nicht.
"Sie sind doch gar nicht da."
Ich stehe also da, die Hände hinter dem Rücken, könnte zwar was tun, darf jedoch nicht. Es gibt nichts zu tun. So fühlen sich also immer die ganzen sehenden Menschen die mir helfen wollen, wenn ich etwas allein machen will. Das sieht dann anders aus und dauert länger, als sie sich das so vorstellen und sie wollen "helfen" und dürfen nicht. Jetzt ist es anders herum. Vertauschte Rollen. Er ist behindert und selbstständig. Ich könnte eingreifen, das ginge schneller, aber darum geht es nicht. Na, dann habe ich doch wenigstens etwas zu tun. Ich kann es so machen, wie ich es an seiner Stelle erwarten würde, mich nämlich dran halten und mich nicht einmischen. Es geht schließlich nicht darum, dass ich das Gefühl bekomme, zu helfen, sondern darum, wirklich zu helfen. Wie ich helfen kann, hat er mir ja gesagt. Durch Nichtstun. Das muss ich jetzt bloß noch akzeptieren.
Inzwischen sitzt er im Rollstuhl und es geht los. Ich greife nach der Türklinke. "Nein. Sie sind doch nicht da.", erinnert er. "Ach ja. Warum fühle ich mich dann bloß so entsetzlich anwesend?" frage ich. Und er überlegt amüsiert: "Helfersyndrom." "Au ja." Ich nicke zustimmend.
Wir fahren also hinaus durchs Gelände. Welch ein Gespann, vorn ein Rollstuhl, dahinter eine Blinde. Jetzt fehlt bloß noch, dass jemand fragt, ob wir zwei auf dem Weg nach Lourdes seien. Ich wünsche mir, ich hätte meinen Faltstock dabei, den hätte ich wenigstens auf Taschengröße zusammenschrumpfen und verstecken können. Geht mit diesem hier aber nicht. Ich mache ihn so klein wie möglich und halte ihn mit der einen Hand senkrecht zwischen der Lehne des Rollstuhls und meinem Körper verdeckt. Die andere Hand liegt auf dem einen Griff des Rollstuhls und so schreiten, kullern, wir durch den Park, um die Kurve und auf der Straße entlang. Nein, vorerst nicht. Er nimmt, wahrscheinlich aus Rücksicht auf mich, zunächst den Fußweg. Leider ist der Fußweg nicht nur schmal, sondern auch uneben und fällt zu einer Seite schräg ab. Und das auf einem Klinikgelände. Klar, warum sollten die Wege auch ausgerechnet hier rollstuhlfreundlich sein. Jedenfalls ist das Fahren auf dem Fußweg so erschwert, dass es ihm reicht und wir auf die Straße wechseln.
Natürlich kommt genau jetzt hinter uns ein Auto. "Macht nichts", sagt er auf eine entsprechende Bemerkung von mir, "wir sind stärker." "Aber das ist ein großes Auto.", gebe ich zu bedenken. "Der is nich groß", bemerkt er trocken, ohne auch nur einmal den Kopf zu wenden, "der fährt bloß rückwärts."
Ich versuche das Grinsen wenigstens aus meiner Stimme zu verbannen und brumme: "Danke"
Wirkliche Angst bekomme ich nicht. Der Mann hat einen großen Lebenswillen. Sollte mich das Auto erwischen, wäre er ohne weitere Verzögerung gleich als Nächstes dran. Das konnte er unmöglich wollen.
Ich hatte mich nicht verrechnet. In gespieltem Ärger über "Frauen" und "Ängste im Straßenverkehr" sinnierend kullert er unser Ökocabrio nach rechts an den Straßenrand und lässt den Kleinlaster vorbei.
Bis jetzt war der Weg sehr einfach gewesen. Den würde ich ohne Probleme zurück finden. Leider biegen wir jetzt nach rechts ab. In eine ziemlich breite, nach mehreren Richtungen verzweigte Einfahrt.
Er erklärt im Weiterfahren: "Hier kann man zum Parkhaus. Aber da brauchen wir ja nicht hin." Wir fahren, uns leicht schräg rechts haltend, weiter durch diesen Platz oder breiten Weg oder was auch immer.
"Hier kann man entweder zur Gynäkologie oder zur Orthopädie abbiegen.", deklariert mein Stadtführer weiter, biegt jedoch nicht richtig ab, sondern fährt weiter Schräg mit irgendeiner Kurve drin. Die Gebäude hier stehen leider nicht schön im rechten Winkel. Bei diesem breiten Weg oder Platz mit schrägen Abzweigungen und ohne Orientierungslinie würde ich auch mit dem besten Orientierungsvermögen nicht mehr ohne Hilfe zur richtigen Straße zurück finden.
"wir sind da." Sprach's und fährt eine langgestreckte Schräge hinauf, ähnlich der, die wir vor unserem Gebäude vorhin hinuntergefahren waren. "Wenn Sie die so locker schaffen, dann haben Sie nachher auch kein Problem.", sage ich, inzwischen recht ärgerlich auf das fahrlässige Sicherheitsbedürfnis der Krankenschwester.
"Natürlich schaffe ich das. Habe ich doch gesagt." Zweifelnd angriffslustig hinzufügend: "Ich hoffe, sie schieben nicht."
Natürlich schiebe ich nicht. Ich hätte sicher mitgeschoben, allerdings mit Ankündigung, wenn er Anstalten gemacht hätte, zurück zu rollen. Aber er hat Kraft und schafft die Rampe spielend. Ich fühle mich hinter diesem großen, ruhigen, kräftigen Mann mittleren Alters ziemlich sicher und wäre nie auf die Idee gekommen, ihn jetzt anzuschieben. Zumal ich ja auch keinen Plan habe, wohin denn überhaupt.
Wir erreichen die automatische Eingangstür und er hält an. "In Gebäuden sind die Flure alle eben. Da brauche ich ja nun wirklich nicht mehr mitzukommen.", entscheide ich. Die Wahrheit ist, dass ich mich in dem Gebäude natürlich genau so wenig auskenne, wie davor und keine Lust habe, mich da auch noch nachher allein wieder zurechtfinden zu müssen. Diese blöde Einfahrt reicht mir schon. Er bejaht und wir verabschieden uns kurz.
Ich unterdrücke den Wunsch ihn zu bitten, mich zur Straße zurückzubegleiten, grinse bei dem Gedanken daran, ziehe meinen Stock wieder auf die richtige Größe heraus und mache mich auf den Rückweg.
Die Schräge hinunter, das ist klar. Danach versuche ich tendenziell die Richtung einzuhalten, aus der wir, vermutlich gekommen waren und irgendwann irgendwie eine kleine Kurve zu machen, mit Schräge nach links. Da sind Leute. Normalerweise ist es mir überhaupt nicht unangenehm, um Hilfe oder nach dem Weg zu fragen, wenn ich nicht weiter weiß. Aber hier? Ich wusste ja gar nicht, wen ich ansprach. Ob es sich um einen Patienten, einen Besucher oder jemanden vom Personal handelte. Wenn ich einen Patienten oder eine Patientin ansprach, wusste ich ja auch nicht, in welchem Zustand sich die Person befand.
Natürlich stellt sich die erste Person, die ich anspreche, als ältere Dame, schlecht zu Fuß heraus.
Ich bin, leider, sowohl durch Kleidung, als auch durch ein Namensschild, welches zudem noch ein falsches ist, deutlich als zum Personal gehörig und damit auch als kompetent gekennzeichnet. So ist es mir doch ziemlich peinlich, keine Ahnung zu haben und hoffen zu müssen, sie würde sich auskennen. Sie kennt sich aber nicht aus. Der Nächste auch nicht. Aber der ist jünger, in besserem Zustand und sichtet einen Lageplan. Nun bin ich immerhin wieder an der Straße und weiß die Richtung. Bis auf eine Baustelle, die mir auf dem Rückweg kurz den Bürgersteig versperrt, komme ich nun ungehindert wieder auf meiner Station an. Dort erstatte ich den Pflegekräften wunschgemäß Bericht, stelle meinem Patienten mündlich den Führerschein aus (schließlich hat er bewiesen, dass er sowohl fahren, als auch führen kann) und bemerke entnervt und nachdrücklich, sie könnten ihn ab jetzt bitte bedenkenlos allein fahren lassen.
Nachbemerkung
Zwei Jahre später:
Inzwischen gibt es auch in unserer Abteilung ein Mindestmaß an krankengymnastischer Ausrüstung. Ein Räumchen, eine Behandlungsbank und ein bisschen Gerät. Zudem sind die Abteilungen der Physiotherapie strukturell besser verbunden. Davon haben wir jedoch beide nichts mehr. Ich habe im letzten Jahr die Arbeitsstelle gewechselt, und Herr S. ist vor einigen Wochen gestorben. Ich hoffe, er hatte einen guten Weg.
© 2009 by Yvonne Ramm
Erstellt am Do, 21.10.10, 13:46:09 Uhr.
URL: http://anderssehen.at/alltag/berichte/patienten.shtml