Anläßlich des 15-Jahr-Jubiläums der steirischen Integrationsbetreuung für sehbehinderte und blinde Kinder organisierte der Lehrkörper des Grazer Odilien-Institutes eine Veranstaltungsreihe mit der URANIA. Eine der Vortragenden zum Thema "Sehen - aus verschiedenen Blickwinkeln" war die Beauftragte für Behinderte und chronisch Kranke an den Grazer Hochschulen, Frau Barbara Levc. Hier ihr Beitrag:
Stellen Sie sich vor, Sie liegen in einer Frühlingswiese, haben die Augen geschlossen, lauschen dem Vogelgezwitscher, dem Summen der Insekten, riechen den Duft des frischen Grases, fühlen die Sonnenwärme und einen zarten Windhauch auf Ihrer Haut. Oder stellen Sie sich vor, Sie sitzen in einem Konzertsaal und hören die Musik Ihres Lieblingskomponisten. Die Dauerwelle der Dame vor Ihnen zu betrachten ist wenig interessant und so schließen Sie die Augen und bemerken, dass Sie die Musik nun viel intensiver genießen können. Oder denken Sie an ein jungverliebtes Pärchen, das sich irgendwo zusammenkuschelt und dabei alles andere als grelles Licht um sich haben möchte. Etwa 90 Prozent aller Sinneswahrnehmungen nimmt der Mensch über die Augen auf. Aber es gibt Situationen, da sind gerade die Sehwahrnehmungen ganz überflüssig, ja sogar störend - und diese Situationen sind sehr häufig solche, in denen wir uns entspannen oder etwas ganz besonders genießen. Nun machen entspanntes Naturerleben, großartige Musik oder zärtliche Stunden leider nur einen geringen Teil unseres täglichen Lebens aus, wohl weit weniger als 10 Prozent. Da liegt die Annahme nahe, dass man ohne Sehvermögen tatsächlich nicht auskommt. Sind nun also blinde Menschen in ihrer Wahrnehmung, in ihrer Erfahrung - also in ihrem ganzen Leben und Erleben - auf 10 Prozent reduziert? Viele sehende Menschen scheinen sich das etwa so vorzustellen. Wie sonst ist es zu erklären, dass man als blinder Mensch immer wieder zu hören bekommt: "Also, blind sein, das wäre das Allerschlimmste für mich. Da wäre ich noch lieber gelähmt oder taub." Wie sonst ist es zu erklären, dass eine Sozialarbeiterin die sehende Ehefrau eines blinden Mannes fragte, ob dieser denn allein die Toilette benutzen könne. Ich könnte noch eine Menge solcher Beispiele berichten, bei denen man nie so recht weiß, ob man darüber lachen oder weinen soll und die deutlich machen, wieviel Unvermögen mit dem Nichtsehen verknüpft wird. Das kommt auch dadurch zum Ausdruck, dass blinde Menschen dafür, dass sie ganz alltägliche Dinge tun, über alle Maßen bewundert werden. Welche junge Mutter erhält schon Komplimente dafür, dass sie ihr Baby wickelt oder mit diesem in der Straßenbahn fährt? Ich meine, alle Mütter würden es verdienen. Allerdings bekomme nur ich solche Komplimente, weil ich eben blind bin und es daher von vielen als außergewöhnlich betrachtet wird, dass ich diese Dinge mache. Dann gibt es aber auch noch eine andere Gruppe von Vorstellungen und Erwartungshaltungen blinde Menschen betreffend, die in eine entgegengesetzte Richtung gehen: "Was, Sie erkennen mich nicht mehr? Ich habe Sie doch im letzten Jahr schon einmal über die Straße geführt." - Man stellt sich vor, ein Blinder könne eine einmal gehörte Stimme auch nach Jahren wiedererkennen. Mag sein, dass das in Einzelfällen der Fall ist, aber nur dann, wenn der Sprecher es vermocht hat, auch einen bleibenden Eindruck zu hinterlassen. Das Hörvermögen blinder Menschen schärft sich und hat so viele Aufgaben in der täglichen Lebensbewältigung zu erfüllen, dass für "Kunststückchen" eigentlich kein Raum mehr bleibt. Manchmal werden Blinde aufgefordert, durch Abtasten die Haarfarbe eines Menschen zu erkennen, oder man bekommt zu hören: "Ich brauche Ihnen ja nichts erzählen. Sie spüren sowieso ganz genau, wie's mir geht." Speziell in esoterisch interessierten Kreisen besteht häufig die Erwartung, dass ein blinder Mensch besondere spirituelle Fähigkeiten haben müsste. Interessanterweise betreffen solche Erwartungen nur blinde Menschen. Von Rollstuhlfahrern oder gehörlosen Menschen werden keine solchen "Kunststückchen" erwartet. Eines haben beide Sichtweisen blinder Menschen - sowohl die des völlig hilflosen als auch die der fast übersinnlichen Fähigkeiten - gemeinsam: Sie ermöglichen Distanz zur eigentlichen Person des Blinden zu wahren. Man steht entweder weit über ihm oder blickt bewundernd zu ihm auf. Alle diese vorgefassten Meinungen haben großen Einfluss auf das Leben der betroffenen Menschen. Das betrifft alle Behinderten, und für alle gilt in gleicher Weise: Was eine Behinderung ausmacht, ist nur zu einem Teil der körperliche Defekt, zu einem oft viel größeren ist es die Haltung der Umwelt. Man ist nicht behindert, man wird behindert.
Ich mache immer wieder die Beobachtung, dass Personen, die im Erwachsenenalter erblinden - wenn sie den Schock bewältigen und wieder aktiv werden - wesentlich selbstbewusster agieren, Wünsche äußern und ihre Rechte einfordern, als dies viele Menschen vermögen, die von Geburt oder von frühester Kindheit an mit dieser Behinderung leben. Die Ursache dafür ist nach meiner Ansicht, dass der späterblindete Mensch in seiner Kindheit und Jugend ein "normales" Selbstbewusstsein entwickeln konnte. Dagegen wächst das behinderte Kind als "Problem", als "Sorgenkind" auf und spürt dies direkt oder indirekt, sodass es sich von Anfang an als minderwertig erlebt. Ich bin zwar überzeugt davon, dass sich hier in den letzten Jahren manches verbessert hat. Die Möglichkeit der professionellen Frühförderung, die auch die Eltern mit einbezieht, und der Integration in Regelschulen ermöglicht den Eltern andere Perspektiven und eine andere Einstellung zur Behinderung ihres Kindes, als dies z. B. bei der Generation meiner Eltern der Fall war. Trotzdem gibt es noch immer viele Anlässe - Gespräche im Verwandtenkreis, Bemerkungen von Passanten, unsensible Gutachter, Kämpfe mit Behörden, die die Eltern für ihr Kind ausfechten müssen - die alle ihre Spuren im Bewusstsein dieser kleinen Menschen hinterlassen. Menschen, die als Erwachsene erblinden, müssen zunächst den Schock, der damit verbunden ist, bewältigen. Die gesamte Lebensperspektive wird in Frage gestellt. Entsetzen, Trauer, Wut und Verzweiflung sind verständliche Reaktionen auf einen solchen Einschnitt und müssen ihre Zeit und ihren Platz haben. Irgendwann sollte der Betroffene aber auch wieder Perspektiven entwickeln und sozusagen ins Leben zurückkehren können. Dazu bedarf es Unterstützung, sowohl professionelle, wie auch durch ihm nahestehende Menschen. Leider werden Menschen in einer solchen Situation in dem Gefühl, alles sei aus und nichts gehe mehr, von ihrer Umgebung nach Kräften bestärkt. Informationen über Rehabilitation und Hilfen im Alltag sind gerade da, wo sie am Wichtigsten wären - bei Augenärzten oder beim Klinikpersonal - kaum vorhanden. Die Angehörigen wollen den Betroffenen oft am liebsten weich einpacken und irgendwo festbinden - aus Angst, es könnte ihm etwas passieren. Es wird wohl auch manches passieren, wenn der betroffene Mensch wieder aktiv wird - er oder sie wird sich wohl ein paar Beulen und blaue Flecken holen, etwas Glas oder Porzellan wird zu Bruch gehen. Das ist unvermeidlich, aber nicht annähernd so schlimm, wie das Gefühl der Nutzlosigkeit und Wertlosigkeit, das Gefühl der Abhängigkeit und des Eingesperrtseins, das entstehen kann, wenn man nur noch herumsitzt, umsorgt, aber auch bevormundet wird. Daher ist es ganz wichtig, jede Eigeninitiative eines Betroffenen zu unterstützen und zusätzlich Informationen einzuholen und Möglichkeiten aufzuzeigen. Was ein blinder Mensch tatsächlich nicht kann, kann er nur selbst entscheiden, und zwar nachdem er es probiert hat oder aufgrund dessen, was er über die betreffende Tätigkeit weiß. Die wichtigste Hilfe - neben der emotionalen Unterstützung -, die man als Angehöriger oder Freund geben kann und die man als selbst Betroffener einfordern sollte, ist Hilfe zur Selbsthilfe. "Hilf mir, es selbst zu tun." - Dieser Wahlspruch der italienischen Ärztin und Pädagogin Maria Montessori gilt hier für Kinder ebenso wie für Erwachsene.
Und was kann ein blinder Mensch nun wirklich? Ich will hier zwischen Berufsleben und privatem Bereich unterscheiden: Im Berufsleben sind die Einschränkungen größer. Sie müssten allerdings nicht so groß sein, wie sie sind, denn viele Einschränkungen beruhen wiederum nicht auf dem Mangel des Nichtsehens, sondern auf den damit verbundenen Vorurteilen. So ist es in Österreich per Gesetz nicht gestattet, dass blinde Menschen bzw. behinderte Menschen überhaupt den Lehrerberuf ausüben. Ebenso dürfen Blinde weder Richter noch Rechtsanwalt werden. Doch bereits in unseren Nachbarländern Deutschland und Italien üben blinde Menschen genau diese Berufe erfolgreich aus. Die Berufsmöglichkeiten beschränken sich aber längst nicht mehr auf die typischen Blindenberufe wie Telefonisten, Korbflechter, Masseure usw. Dies ist vor allem dem PC und den damit verbundenen Möglichkeiten zu verdanken. Doch wer immer etwas "Ausgefallenes" versuchen möchte, braucht viel Kraft für Überzeugungsarbeit und muss immer wieder beweisen, dass er es kann.
Im Privatbereich, sei es nun Haushalt, Familie oder Hobby, gibt es nur wenig, das wirklich unmöglich ist. Das heißt aber nun nicht, dass alles, was ein blinder Mensch tun kann, auch einfach ist. Oft ist das Gegenteil der Fall, und viele für sehende Menschen selbstverständliche Tätigkeiten erfordern einen viel höheren Aufwand an Zeit, Konzentration und Anstrengung. Man muss sich als blinder Mensch daher die Frage stellen, ob man alles das, was man theoretisch erlernen und tun könnte, praktisch auch wirklich selbst tun will. Man muss sich dann entscheiden, was man selbständig tun möchte und wofür man sich Hilfe holt, einfach um mit seinen Kräften sinnvoll umzugehen und sich ein möglichst hohes Maß an Lebensqualität zu schaffen. Ein Beispiel soll dies erklären: Ich habe beruflich immer wieder in Wien zu tun und könnte, wenn ich das wollte, bei der Heimreise meinen Weg durch den Südbahnhof zum Bahnsteig allein bewältigen. Ich könnte immer wieder Passanten nach der Richtung fragen. Die Rolltreppen würde ich an ihrem Geräusch erkennen, die normalen Treppen am Getrappel der Füße. Am Luftzug und an der Geräuschkulisse würde ich erkennen, wann ich die Bahnsteige erreicht habe, wiederum nach dem richtigen Bahnsteig fragen und mir auch im Zug durch Fragen einen freien Sitzplatz finden. Ich könnte aber immer wieder einmal eine falsche Auskunft bekommen, denn Menschen auf Bahnhöfen haben es meist eilig. Ich könnte also einige Male in die falsche Richtung gehen und ich würde vielleicht in einem sehr voll besetzten Abteil landen, ohne zu wissen, dass im danebenliegenden noch wesentlich mehr Platz wäre. Schließlich würde ich, bis der Schaffner kommt, ein wenig nervös sein, ob ich auch wirklich im richtigen Zug sitze. Alles das bedeutet ziemliche Anstrengung und Stress, also habe ich mich dafür entschieden, mich beim Fahrkartenschalter für Hilfe anzumelden und mich von einem netten ÖBB-Bediensteten bis zu meinem Sitzplatz im Zug geleiten zu lassen. Andererseits habe ich mich dafür entschieden, mit meinem kleinen Sohn an einem Babyschwimmkurs teilzunehmen. Auch das ist für mich recht anstrengend, denn die Akustik in einem Hallenbad ist immer ungünstig. In der Umkleidekabine herrscht ziemliches Gedränge und wahrlich keine angenehmen Bedingungen, um ein Baby aus- und anzuziehen und schließlich bin ich mir der Tatsache bewusst, dass ich von vielen anderen Teilnehmern sehr genau beobachtet werde, ohne dass diese mit mir in Kontakt treten. Aber diese Sache ist mir so wichtig, dass ich das gern in Kauf nehme, und der Spaß, den wir beide am Herumplantschen haben, rechtfertigt meine Entscheidung.
Es gibt selbstverständlich Situationen, wo es ohne Hilfe nicht geht: Einkaufen im Supermarkt, Bekleidung kaufen, unbekannte Wege erforschen. Hier muss zumindest immer jemand erreichbar sein, den man fragen kann. Die Art Hilfe, die blinde und sehbehinderte Menschen sich dabei wünschen, gibt ihnen die Informationen, die sie selbst nicht einholen können, nimmt aber keine Entscheidungen ab. Der Grund, warum viele behinderte Menschen lieber große Strapazen auf sich nehmen oder unbefriedigende Lebenssituationen hinnehmen, als sich helfen zu lassen, ist vielfach, dass sie die Erfahrung gemacht haben, wie sehr Helfer sie bevormunden. Wenn ich mit einer Friseurin meine Vorstellungen über meine Frisur bespreche und sie mir sagt, dass mir ein kürzerer Haarschnitt besser stehen würde, dann bin ich ihr für diese Information dankbar. Ich kann mich nun entscheiden, ob ich es probiere oder doch lieber bei meiner vertrauten Haarlänge bleibe, weil diese z. B. meinem Mann besser gefällt. Wenn ich aber nach dem Friseurbesuch feststelle, dass meine Haare wesentlich kürzer sind, als ausgemacht war, hat mich diese Friseurin zum letzten Mal gesehen. Mag sein, dass mir der kürzere Schnitt wirklich besser steht. Ich möchte aber - und das ist hier der springende Punkt - als Person mit meinen Entscheidungen respektiert werden und lehne es ab, dass man über meinen Kopf hinweg etwas tut, das ich nicht möchte - und sei es in noch so edler Absicht.
Ich möchte jetzt den Kreis schließen und wieder zur duftenden Frühlingswiese zurückkehren. Alle die Sinne, die dort also das besondere Erlebnis ausmachen - das Gehör, der Geruchsinn, der Tastsinn - sind sehr gut geeignet, viele Bereiche abzudecken, die normalerweise von den Augen wahrgenommen werden, wenn man diesen anderen Sinnen vertraut und die nötige Aufmerksamkeit schenkt. Sie können keine Wunder vollbringen und nicht alles abdecken und sie müssen trainiert werden. Sie ermöglichen aber durchaus, ein aktives und erfülltes Leben zu führen. Menschen, die ihr tägliches Leben nun nicht mit Hilfe der Augen bewältigen, sind nicht "die Blinden", sondern Männer und Frauen, Kinder und Jugendliche mit ganz unterschiedlichen Persönlichkeiten, mit Stärken und Schwächen und mit ihren ganz eigenen Wünschen, Zielen und Träumen - nicht anders als jeder andere Mensch und doch etwas ganz Besonderes. Denn schließlich ist doch jeder Mensch etwas ganz Besonderes.
Aus: "Odilien-Institut im Blickpunkt", Folge 40/Juni 1999
Erstellt am Di, 24.10.00, 08:01:19 Uhr.
URL: http://anderssehen.at/alltag/berichte/sehen.shtml