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Schräge Töne

Vor zwei Jahren versuchte ich den Kliniksseelsorger für unsere Weihnachtsfeier zu ködern und wurde im Gegenzug zur Andacht in die Klinik eingeladen. Er kam nicht... ich blieb.

Es kommen nur selten Patienten zur Andacht. Wir wanken und weichen nicht und singen trotzdem, daß es durch die Gänge schallt. Kommt ihr nicht zu uns, dann erreichen wir euch!

Anfangs war ich sehr aufgeregt. Der Aufenthaltsraum ist offen, daneben liegt direkt das Wartezimmer zum Arzt. Auch wer keine Andacht will, ist unseren Gesängen ausgeliefert. Durch die Anspannung sang ich öfters wie Mama Wutz, die das Urmele einzuschläfern versucht. Zur Entspannung machte mir der Seelsorger den "Säh-äläfant". Ich wurde mit der Zeit lockerer. Ich lernte katholische Lieder kennen, sang von Blümelein und Mandelkern. Dann nahm ich eigene Gesangbücher mit, auf deren unheiligen letzten Seiten oftmals Wander- oder Kinderlieder zu finden sind. So sangen wir an einem Abend voller Inbrunst "Meine Biber haben Fieber" und ich erfuhr, daß das DER Schlager auf der Kinderstation sei. Man müsse es mit einer Mischung von Mitgefühl und Häme singen. Spaßig, echt! ...und meine Mücken hams im Rücken.... Aber die Patienten in der Augenklinik "hams nich im Rücken" und somit ist das Verteilen von Gesangbüchern zwiespältig.

Eines Abends besuchten wir eine 90 Jährige, die allein in einem großen Krankensaal lag. Der Seelsorger packte seine Gitarre aus, ich friemelte an den Gesangbüchern herum und suchte nach einem Lied. Die alte Frau wußte genau welches sie wollte und so sangen wir einen dieser hoffnungsvollen Bandwürmer von Paul Gerhard. 13 Strophen. Sie konnte sie alle auswendig!! "Das habe ihr ihr Mütterlein beigebracht!"

Ich überdachte mein eigenes Musikverhalten. Ich höre Radio und ziehe mir da alles rein, wie sollte ich da die Gemeindelieder auswendig lernen, die ich so gerne singe? Ich organisierte mir alle CDs zu den Lobpreisliedern, die ich mit der Zeit auswendig lerne. Wenn ich im Gottesdienst müde bin, kann ich nun auch mit geschlossenen Augen singen. Sehr praktisch. Jetzt hatte ich das Material, aber habe ich auch STIMME?

Bei uns daheim war es am besten still zu sein. Leise atmen, wenn überhaupt. Mein übersensibler Vater hatte ein sehr feines Gehör, das aber leider auf NEBENgeräusche geeicht war. Nun kommt für jedes Schulkind der Tag, wo es ein gelochtes Holzrohr in die Pfötchen kriegt und drauf melodisch blasen lernen soll. Ich bekam die abgenagte Mollenhauer meiner Mutter und versuchte mit meinen kleinen Fingern die Löcher zu bedecken. Schwierig. Es quiekte, die Töne überschlugen sich, mich packte die Wut, meinen Vater die Verzweiflung. Schlangenbeschwörer spielen fand ich toll. In Musik kaute ich am liebsten Maiskörner, was unvereinbar mit Flötespielen ist. Nachsitzen!

Ich bekam eine Melodika. Ich kann mich nicht erinnern warum. Vielleicht habe ich sie mir sogar gewünscht. Wer weiß.

Die Melodika ist auch ein Blasinstrument. Eins aus Kunststoff mit Tasten und unten einem Griff. Links halten, rechts spielen, oben reinblasen, unten tropfte in großen Mengen Spucke raus. Die Titelmelodie von Maigret konnte ich gut. Ännchen von Tharau und auch der Schneewalzer begeisterten mich wenig. Umso länger mußte ich diese Stücke üben. Mein Vater fragte in der Küche nach, was denn das Kind da spiele, als er es erfuhr, zog er sich mit seinen Kopfhörern zurück. Die waren schalldicht. Ich blies und tropfte und irgendwann gab es von dem Musikverein einen Auftritt. Wir saßen im Kreis auf der Bühne, jeder hatte seine Noten vor sich, das Instrument war startklar. Als der Bürgermeister die Bühne betrat, für seine Rede tief Luft holte, holte ich auch, aber aus und warf meinen Notenständer um. Die Notenblätter segelten hin und her, glitten unter die Stühle, fielen von der Bühne. Niemand kümmerte sich mehr um den armen Mann am Rednerpult, dem es die Sprache verschlug. Viele hilfsbereite Leute bückten sich, reichten mir Papier für Papier, ich ordnete schamrot meine Noten. Dann endlich Stille und die Rede. Als wir anfingen zu spielen wurde mir nach einiger Zeit klar, daß ich ein anderes Musikstück spielte. Ich suchte möglichst unauffällig nach den passenden Noten, fand sie sogar UND ein gemeinsames Ende mit den anderen. Im Nachhinein bedanke ich mich bei meiner Mutter, die mich damals tatsächlich wieder mit nach hause nahm und nicht im Park aussetzte.

Soviel zu meinem Verhältnis zum Musizieren. Aber singen tu ich gern! Mittlerweile bin ich laut geworden, brülle meine Botschaften auch einfach mal über die Straße, wenn ich eine Freundin seh. Seitdem ich viel mit älteren Leuten zu tun habe, spreche ich auch lauter. Mein Vater ist schon lange tot. Ich überlegte eine Weile an wen ich mich wenden sollte. Mit Singen gibt man sich auch ein Stück Preis. Bei wem wollte ich das? Und ich kam auf Andrea. ja, Andrea, die grad diese Geschichte liest. Für zwei Gesangsstunden nehme ich 5 Stunden Fahrt in Kauf. Das hat den Vorteil, daß ich nicht so schnell wieder in den Alltag abdriften kann. Ich sollte drei Lieder mitbringen. Eins, von dem ich glaubte ich kann es, dann das zweite bei dem ich Schwierigkeiten habe und das letzte... sozusagen das ZIEL.

Ich nahm mir vor, mich NICHT zu genieren und zu mir zu stehen und vor allem zu den Liedern, die ich mitbrachte. Andrea beäugte mich während des Singens genau. Ich quetsche Töne mit dem Brustkorb raus. Nasowas.... und dann mußte ich mich auf den Boden legen und es gab kein Entkommen (erinnern sie sich an die Geschichte "Ich atme"? und meinen Widerwillen gegen unartikulierte Töne?) Also, da lag ich auf dem Boden und atmete, und hauchte, und brodelte, und blubberte. Seufzen !!! ....kostet Überwindung. Den Unterkiefer wie ein Idiot hängen lassen! "Nein, es hat noch nie jemand auf meinen Teppich gesabbert", hörte ich und unterdrückte das Schlucken. Schlucken soll ich mir abgewöhnen. Haben Sie schon mal beim Einatmen das Kreuzbein gedehnt?

Als ich gegen 17 Uhr daheim ankam, war ich völlig platt. Mein Kreuzbein brannte, im Zwerchfell hatte ich Muskelkater. Ich fiel ins Bett und gab keinen Ton mehr von mir. Ausgehaucht. Fertig.

Aber ich komme wieder!

Tösend und tönend grüßt

Ulrike Geilfus

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© 2007 by Ulrike Geilfus
Erstellt am Fr, 21.12.07, 10:46:09 Uhr.
URL: http://anderssehen.at/alltag/berichte/toene.shtml


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