Wir träumen bekanntlich mehrmals nachts, und während unser Gehirn zunächst die Sinneseindrücke, Erlebnisse und Gedanken des zurückliegenden Tages verarbeitet, indem es sie durchsieht und geordnet ablegt, werden in den weiteren Träumen zunehmend ältere Eindrücke und Gedankeninhalte hervorgeholt und spielerisch mit neueren Eindrücken verknüpft, um sie möglicherweise unter anderen Gesichtspunkten neu zu bewerten und einzuordnen. Auch unser momentanes Befinden, z. B. ein voller Magen oder Schmerzen und äußere Reize wie Temperatur, Licht oder Geräusche, gehen in unsere Träume ein. An dieser Stelle sei an das Uhrenradio gedacht, dessen Musik in unseren Traum eingehen kann. Leider (oder Gott sei Dank?) können wir uns nur der Träume bewußt werden, aus denen wir erwachen; aber selbst davon werden wir die meisten schnell wieder vergessen. Doch selbst in den wenigen Träumen, die uns bleiben, können wir unbekannte Welten schauen: Landschaften, Gebäude, Gegenstände und Menschen, die wir nie sahen. Mögen uns auch bekannte Orte, Gegenstände und Menschen fremdartig erscheinen, wir werden sie trotzdem sofort erkennen.
Alle Sinne sind an den Träumen beteiligt, auch das Denken. Wir können sehen, hören, fühlen, riechen, schmecken, denken, ja sogar träumen! Das Improvisationstalent unseres Gehirns kennt im Traum keine Grenzen; nichts ist unmöglich und Wunder werden sofort vollbracht. Doch aus welchem Stoff unsere Träume auch immer gewebt sein mögen, es sind die Fäden unseres eigenen Lebens, die da auf einzigartige Weise miteinander verwoben werden. Warum sollten dabei so wichtige Themen wie Blindheit und Sehbehinderung keine Rolle spielen?
Ich bin auch im Traum sehbehindert und sehe wie mit Brille. Die Sehentfernung spielt dabei keine Rolle, im Traum habe ich immer die richtige Brille auf. Nie sah ich im Traum auch nur das kleinste Stück Brillenfassung, Reflexe von Lichtquellen hinter mir oder Fettspuren und Kratzer auf den Gläsern. Ob ich die durch die Brille bedingte geringe Gesichtsfeldeinschränkung wahrnehme, weiß ich nicht, halte es aber für möglich. So muß es wohl sein, wenn man keine Brille trägt. Das Wunder daran ist, daß ich von Kindesbeinen an eine Brille trage und mir bei Tage ohne Brille im Gesicht nicht komplett, ja direkt nackt vorkomme.
Das Augenzittern (Nystagmus) ist im Traum auch vorhanden, aber weit weniger ausgeprägt als am Tage. Deutlich nehme ich jedoch wahr, daß ich mit dem linken Auge schlechter sehe als mit dem rechten, daß das Bild im linken Auge etwas kleiner ist, und auch die Doppelbilder, ähnlich den "Geisterbildern" im Fernsehen sind deutlich zu erkennen, besonders dann, wenn ich in eine nicht zu helle Lichtquelle, z. B. eine Glühbirne schaue. Diese Angewohnheit hatte ich schon als kleines Kind und habe sie nie ganz abgelegt. Daran sieht man, daß auch sehbehinderungsbedingtes Verhalten in den Träumen seinen Platz hat.
Das gilt in vielleicht noch stärkerem Maße für die sozialen Folgen der Sehbehinderung. So liegt z. B. meine Schulzeit in einer Internatsschule - das war und ist im Sonderschulbereich, also auch bei Blinden und Sehbehinderten weit verbreitet - 30 Jahre hinter mir; trotzdem träume ich noch heute häufiger von Gemeinschaftseinrichtungen, größeren Menschengemeinschaften, öffentlichen Verkehrsmitteln, besonders der Eisenbahn sowie von Bahnhöfen. Der Umgang mit Menschen ist im Traum nur wenig anders als im Leben. Die Sehbehinderung selbst ist hier von untergeordneter Bedeutung. Daß ich öfters eher am Rande des Geschehens stehe wie ein Zuschauer im Kino muß nicht direkt mit der Sehbehinderung zu tun haben.
Kino und Fernsehen spielten in meinen Träumen kaum eine Rolle, obwohl ich farbtüchtig bin und meine Träume bunt sind. Dafür sind Radio, Musik und Gesang um so stärker vertreten. Textprobleme gibt es dabei nicht. So sang einst der amerikanische Bluessänger Leadbelly in einem meiner Träume im Radio den Song "I Am Rülpsing All The Time" - das englische Wort für "rülpsen" kannte ich damels noch nicht. Hat mein Gehirn dieses Problem nicht prächtig gelöst?
Daß mit dem Autofahren und dem Fliegen für Blinde und Sehbehinderte Träume wahr wurden, steht außer Zweifel, auch wenn dieser Personenkreis üblicherweise nur als Fußgänger am Straßenverkehr teilnehmen darf - außer eben im Traum. Meine Fahrzeuge hatten oft ein eigenartiges Innenleben, das eher an einen Eisenbahnwaggon oder die Einrichtung eines länglichen, schmalen Raumes erinnerte. Es gab auch mehr Steuerknüppel als Lenkräder. Auf den Straßen kamen mir meist weder Menschen noch Fahrzeuge entgegen. Erst mit über 35 Jahren wurde ich mir auch in meinen Träumen allmählich der mangelhaften Verkehrstüchtigkeit Sehbehinderter bewußt und hatte dann meistens ein schlechtes Gewissen beim Führen eines Fahrzeuges. Ich fuhr recht unsicher, aber da mir weder jemals ein Fahrzeug oder ein Fußgänger entgegenkam und ich auch sonst nirgendwo aneckte, passierte nie etwas. Im vorerst letzten Traum dieser Art hatte ich mir ein altes Auto gekauft, das ich wegen seiner Langsamkeit auch hätte führen dürfen, jedenfalls nach der Rechtslage in meinem Traum. Stets hoffte ich allerdings dabei, mir möge nie ein Polizist begegnen und mich aus dem Verkehr ziehen, denn meine Frau wußte natürlich nichts davon, und die wäre sicher noch ärger mit mir umgesprungen als die Polizei! Doch woher hätte sie das je erfahren sollen? Das Fahrzeug war am Straßenrand geparkt und hätte jedem gehören können...
© 2002 by Falk Webel
Erstellt am So, 16.06.02, 02:47:00 Uhr.
URL: http://anderssehen.at/alltag/berichte/traum.shtml