Bestimmt kennt ihr die Situation und das Gefühl, nicht als Individuum, sondern als blindes Unikat wahrgenommen, mit immer denselben Fragen überhäuft zu werden und ... genervt vondannen zu ziehen... Vor Kurzem bin ich in eine Situation geraten, die mich für den Moment hilflos und traurig gemacht hat.
Ich bin Mitglied im Freien Lokalrundfunk Köln e.V., einem Verein, der Bürgerfunk-Radio macht. Unsere Sendungen werden über Radio Köln ausgestrahlt. Ich moderiere die Magazin-Sendung "Hörens" und gestalte zuweilen auch eigene Sendungen. Der FloK hat - neben vielen anderen Radiogruppen - eine Knast-Radiogruppe. Häftlinge aus dem Gefängnis in Köln Ossendorf gestalten regelmäßig Sendungen.
Durch oftmaliges Hören von Beiträgen aus dem Knast konnte ich mir einen kleinen Eindruck von Peters Einstellung und seinem Wesen verschaffen, aber vor allem setzten sich meine Ohren wie eine Zecke an seiner einzigartigen Stimme fest und wollten sie nicht mehr los lassen. Ich war in letzter Zeit nicht im Knast dabei gewesen, wenn die große Radiogruppe getagt hatte, deshalb habe ich Peter erst nach seiner Entlassung in unseren Redaktionsräumen kennengelernt. Wir mochten uns sofort und unternahmen in den darauffolgenden Tagen viel miteinander. Es war vom Anfang an so, als würden wir einander schon lange kennen - wir sind uns vertraut. -
Eines Tages entstand während der Redaktionssitzung folgende Situation: Wir hatten einen Ammatör-Film aus dem Knast gesehen, in dem die Inhaftierten Peter gegrüßt und ihm ein paar Fragen gestellt hatten. Als der Film zu Ende war, sagte plötzlich unsere Vereinsälteste, der in diesem Moment nicht klar war, dass Peter in unserer Mitte saß: "Meint ihr wirklich, dass das mit diesem Peter gut geht?" Kollege Christoph und ich antworteten gleichzeitig: "der sitzt doch gerade hier." Und plötzlich wurde Peter mit Fragen und Tipps überschüttet: Ich kann dir eine Kirchengemeinde empfehlen. Hier hast du die Karte von..., Habt ihr schon eine neue Wohnung gefunden? Hast du schon einen Job? Und so weiter, und so weiter.
Plötzlich war Peter in der Situation, die ich hasse, seit ich denken kann. In solchen Situationen kann man nur schwer unterscheiden, ob die Menschen ein ehrliches Interesse an der Person oder am Handicap bzw. der hervorstechenden Historie der in den Mittelpunkt gerückten Person haben. Der Unterschied zwischen der Situation, in der wir Blinden immer - unfreiwillig - sind, und der, in der sich mein Freund Peter gerade befand, liegt darin, dass für Peter solche Situationen nur dann entstehen, wenn die Leute wissen, dass er im Knast war, und für uns Blinde entstehen sie, weil man uns unser Handicap ansieht.
Zum Glück hatte keiner gesagt: "...wenn ich gerade aus dem Knast gekommen wäre, würde ich...". Schließlich haben wir gehandicapten folgenden Satz nicht erst einmal gehört: "Wenn ich blind wäre, würde ich...".
Ich saß da und dachte nur: "Oh Gott, wann hört das endlich auf?" und begann nach der Sitzung die Aufmerksamkeit der Kollegen auf mein Handicap zu lenken, indem ich erzählte, was mir auf dem Weg in die Redaktion auf der Straße passiert war und wie schrecklich ich finde, mich zu verlaufen... Ich tat das intuitiv und ohne dass es mir bewusst war, um Peter aus dieser Situation herauszuhelfen, die ich nur schwer ertragen konnte. Es schmerzte mich, dass mein sensitiver Freund, den ich innerhalb einer Woche so liebgewonnen hatte, gerade in eine Situation geraten war, durch die ich mich täglich quälen muss und die ich ihm am Liebsten erspart hätte.
Wie sich später herausstellte, hat Peter die beschriebene Situation nicht so schmerzlich empfunden wie ich, und beim nächsten Mal kann ich lockerer damit umgehen. Aber diese Traurigkeit und die Hilflosigkeit, die ich in diesen wenigen Minuten empfunden hatte, werden mir in Erinnerung bleiben.
© 2003 by Andrea Eberl
Erstellt am Mi, 09.07.03, 09:57:19 Uhr.
URL: http://anderssehen.at/alltag/berichte/unikat.shtml