Ich bin 52 Jahre alt und von Geburt an blind.
Seit mehr als 12 Jahren arbeite ich als freiberuflicher Rechtsanwalt.
Nun, für blinde Leser dieser Homepage ist diese Aussage nichts besonderes, ist doch der blinde Jurist eine relativ häufig vorkommende Spezies, und unter den blinden Juristen gibt es nicht wenige Rechtsanwälte.
Anders sieht die Sache schon bei sehenden Menschen aus. Immer wieder wird von ihnen die Frage gestellt: "Wie machen Sie das eigentlich?" oder sehende Mandanten sitzen in meinem Sprechzimmer, und während sich inmitten einer Beratung aus irgendeinem Grund die Notwendigkeit des Telefonierens ergibt, können sie nicht umhin, ihre Verwunderung darüber zum Ausdruck zu bringen, wie ich denn so locker auf der Telefontastatur zurecht komme. Oftmals ergibt sich dann auch noch die Situation, in der ich den Cashtest erklären muß, was wohl fast jeden Sehenden beeindruckt.
Aber das ist nur die eine Seite der Medaille. Es gibt genügend Situationen, in denen man dem sehenden Gegenüber unterlegen ist oder sich zumindest unterlegen fühlt. Hieran ändern auch alle modernen elektronischen Blindenhilfsmittel nichts. Als Rechtsanwalt leben Sie davon, an Gerichtsverhandlungen oder anderen Besprechungen teilzunehmen. Sie halten sich also häufig an unbekannten Orten und in unbekannten Räumen auf. Dabei sitzen Sie auch nicht selten noch fremden Menschen gegenüber, die zumeist noch nie zuvor mit einem Blinden zu tun hatten. Gerade in solchen Situationen ist es notwendig, eine sehr zuverlässige Arbeitsplatzassistenz zu haben, die nicht nur begleitet.
So befand ich mich schon einige Male in der Situation, daß wir hart verhandelten, ich einen harten Standpunkt vertrat, der aber eigentlich aufgrund des Verhandlungsverlaufes so schon nicht mehr zu halten war. In solchen Situationen kommt es dann auf einen das Gesicht wahrenden Rückzug, nicht auf eine Kapitulation, an. Und hier mußte ich die Erfahrung machen, daß uns der fehlende Blickkontakt benachteiligt. Es ist dann durchaus die Aufgabe einer vertrauenswürdigen und zuverlässigen Arbeitsplatzassistenz, den Blinden diskret und für die Umgebung möglichst unmerklich darauf hinzuweisen, daß es nun Zeit zum Einlenken ist.
Eine immer einmal wieder auftretende Situation ist die, daß man als blinder Rechtsanwalt am Arm der Arbeitsplatzassistenz den Gerichtssaal betritt, man sich platziert und die Arbeitsplatzassistenz daneben, der vorsitzende Richter bzw. die Kammer aber entweder weil sie später in den Gerichtssaal kamen oder aus anderen Gründen nicht realisierten, daß man blind ist bei der Feststellung der Anwesenheit fragen: "Und die Dame neben Ihnen, Herr Rechtsanwalt, ist das Ihre Mandantin?" Ich muß zugeben, daß ich selbst nach den Jahren dann immer noch ein etwas seltsames Gefühl habe, wenn ich die Situation erkläre, auch wenn es noch nicht vorgekommen ist und hoffentlich auch nie vorkommen wird, daß ein Gericht meiner Assistenz die Teilnahme an der Verhandlung verweigern wollte.
Problemlos war dies bislang sogar in Ehescheidungssachen, die ja nach deutschem Recht nicht öffentlich verhandelt werden, aber da ist das Gefühl mitunter noch seltsamer, weil das Gericht den Umstand der Anwesenheit der Assistenz zu protokollieren hat und zuvor die Beteiligten fragen muß, ob sie Einwände gegen die Teilnahme haben.
Probleme treten in Gerichtsverhandlungen mitunter auch dann auf, wenn Parteien oder Zeugen auf eine Frage lediglich mit dem Kopf schütteln oder nicken. Hier kann es einen Moment lang vorkommen, daß man als Blinder glaubt, die Frage sei nicht beantwortet. Wenn dann die Assistenz nicht unverzüglich ein entsprechendes Signal gibt, so kann dies schon zu Irritationen führen.
Einmal kam es schließlich vor, daß man mich zwar zu meinem in der Justizvollzugsanstalt einsitzenden Mandanten lassen wollte, aber nur ohne meine Mitarbeiterin. Erst als ich erklärte, daß ich sie benötige, weil sie z. B. Aktenstücke heraussuchen müßte, über welche ich mit dem Beschuldigten sprechen wollte und ich also ohne sie das Gespräch nicht führen, sondern wieder nach Hause fahren und mich sodann beim zuständigen Richter beschweren würde, löste sich das Problem. Manchmal muß man in solchen Situationen also auch resolut sein, was aber auch nicht immer einfach ist.
Aber auch die Begegnung mit neuen Mandanten läßt mich selbst nach den Jahren immer wieder einmal ins Grübeln kommen. Zwar befindet sich meine Kanzlei in ländlichem Gebiet, wo fast jeder jeden kennt, sodaß viele über meine Blindheit informiert sind, bevor sie mich das erste Mal gesehen haben, aber das ist ja nicht immer so, und ich frage mich schon manchmal, ob denn der oder die Mandantin auch gekommen wäre, wenn sie vor dem Betreten der Kanzlei gewußt hätte, daß ich blind bin. Es hat allerdings bislang auch noch keinen Mandanten gegeben, der erklärt hätte, er ginge wieder, weil er etwa einem blinden Rechtsanwalt die Lösung seines Problems nicht zutraue. Irgendwie habe ich aber den Verdacht, daß die von mir oben erwähnten Mandanten, die so beeindruckt sind von der Telefonbedienung, dem Cashtest u. a. m. gerade diejenigen sind, die beim Betreten meiner Kanzlei nicht wußten, daß ich blind bin und darüber vielleicht im ersten Moment sogar erschrocken waren.
Peter Och
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© 2004 by Peter Och
Erstellt am Fr, 30.07.04, 08:01:19 Uhr.
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