Drei junge Blinde (oder sollte man sagen "junge Wilde") waren zusammen in der Stadt unterwegs und hatten es - wie meistens - eilig. Die Straßenbahn, die sich deutlich hörbar näherte, durften sie auf keinen Fall verpassen. Aber da war noch eine mehrspurige Straße zu überqueren, auf der reichlich Bewegung herrschte. "Ohren auf und durch", dachten sich die drei und nahmen an der Bordsteinkante Aufstellung, ihre gelben Armbinden noch einmal zurechtrückend (die Zeit der Langstöcke war noch nicht über sie gekommen). "Und los", waren sich zwei einig und stürzten sich übermütig in die gut hörbare Verkehrslücke, den dritten mit sich ziehend.
Schon auf der Fahrbahn überlegte es sich letzterer anders, blieb stehen und legte den Rückwärtsgang ein. Das Motorrad hatte keine Chance zu reagieren. Statt mit der Straßenbahn fuhren die Unglücksraben mit dem Krankenwagen in die Uniklinik, wo es zwei von ihnen eine Weile aushalten mussten (Knochenbrüche, fehlende Zähne u.a.m.).
Als der eine wieder aufstehen konnte, ging er in der großen Klinik auf die Suche nach seinem Leidensgefährten, denn sie waren auf getrennten Stationen untergebracht.
Diesmal nahm er neben der Armbinde auch einen weißen Stock mit, fragte sich mühsam durch und kam dann wirklich auf der Station an, wo sein vergipster Freund schon auf ihn wartete. Die Stationsschwester wusste gleich Bescheid und fragte den Besucher mit aufgespartem Vorwurf in der Stimme: "Da sind Sie wohl der Motorradfahrer?"
Dieser konnte sich ein "Schön wär's" gerade noch verkneifen.
(aufgeschnappt und aufgeschrieben)
Aus: "Die Gegenwart", Zeitschrift des DBSV, Nr. 5, Mai 2003.
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Erstellt am Sa, 07.06.03, 10:01:19 Uhr.
URL: http://anderssehen.at/alltag/passiert/0503.shtml