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U 4

U 4 bedeutet für mich: unberechenbar, umständlich, unbelichtet, Untergrund.

Es handelt sich um die U-Bahn der Linie Vier in Frankfurt. Schon der Weg von den Gleisen zu der Rolltreppe in der Vorhalle erfordert hohe Aufmerksamkeit. Ein breiter Strom von Reisenden, die nichts sehen, weil sie Ausschau halten nach Anzeigetafeln, strömt quer an den Gleisköpfen vorbei. Früher stand ich da und wartete auf eine Lücke, aber irgendwann hatte ich das Warten satt und Geduld ist eh nicht meine Stärke. Nun gibt es zwei Strategien. Entweder hänge ich mich in den Windschatten eines Reisenden, der auch quer von den Gleisen Richtung Anzeigetafel muß oder ich schlage mich alleine durch. Das tu ich im wahrsten Sinne des Wortes, denn strammen energischen Schrittes, den Stock leicht schräg nach vorn gehalten, gehe ich meines Weges. Hinter mir stolpernde Vollsehende, die um ihr Gleichgewicht kämpfen. Ohne Mitleid oder mich Umzudrehen pflüge ich mir weiter meine Bahn, bis ich endlich in den Untergrund zur U 4 gelange. Erster Tunnel links. Dort fährt die Linie U 4 zu meiner Freundin Karin. Ich fahre bequem bis zur Endhaltestelle.... ich sollte schreiben "ich fuhr", denn seit neuestem gestalten sich die Fahrten eher abenteuerlich.

Im Januar hatte ich einen netten Platz gefunden, meinen Rucksack abgeschnallt, als eine Tür aufging und eine kleine Gestalt in Pelzmantel und Pudelmütze an mir vorbei preschte. "Ein Kind", dachte ich und beobachtete weiter die Familie vor mir. Im Hintergrund ein wütendes Zischen, Tüten raschelten, ein KLatschen auf dem Boden. Vorsichtig drehte ich mich ein Stückchen, denn das Beobachten aus den Augenwinkeln ist mit meinem beschränkten Gesichtsfeld nicht mehr möglich. Ich sah die pelzige Gestalt mit Schuhen kämpfen, sah kleine dunkle nackte Füße, die nicht auf Anhieb Einschlupf fanden. Dazu wüstes Gefluche und Labello und Kleinkram, der mit Schmackes aus den Tüten flog. Die eckigen Bewegungen signalisierten mir eine eingeschränkte Feinmotorik, die Lautstärke Agressivität, Distanzlosigkeit, der ich nicht begegnen wollte und so verzog ich mich ans andere Ende des Wagens. Sicher ist sicher, dachte ich. Dort saß ich und hörte nur mit einem Ohr auf die Ansagen.

Plötzlich hielt der Wagen im Dunkeln. Mitten im Tunnel. Und dort stand er, und ich fand es verdächtig ruhig. Beim Umdrehen sah ich, daß ich allein im Wagen war. Nein, nicht ganz allein, ausgerechnet der Minipelz kam auf mich zugewankt. Eine erwachsene Frau mit gelben Augen, die sich verdrehten, saurer Alkoholatem, aber keine Agressivität mehr, sondern die gehauchte matte Frage: "Hauptbahnhof?" Mir brach der Schweiß aus, denn inwieweit war die Frau überhaupt noch zugänglich für Informationen? Würde sie ein "NEIN" persönlich nehmen? Ich versuchte ihr gerade zu erklären, daß hier unmöglich der Hauptbahnhof sein könne, als die Tür aufging. Wahrscheinlich guck ich zuviel Krimis, aber ich war völlig entnervt mit einer Drogensüchtigen im Abteil im Tunnel allein zu sitzen und dann nicht erkennen zu können, wer oder was aus dem Dunkeln auftaucht und nun auch noch zur Tür reinkommt. Es war der Zugführer, was ein GLück, der Pause machen und uns loswerden wollte. Ich monierte, daß er nicht "Endstation" gesagt habe, was mein Stichwort sei und die Drogenpelzige hauchte "Hauptbahnhof?"

Der Zugführer fuhr ein Stück zurück und erleichtert hüpfte ich auf den Bahnsteig. Die kleine Frau scheiterte an dem schmalen Abgrund von knapp 10 cm, der sich zwischen der Kante der U-Bahn und des Bahnsteigs auftat. Ich reichte ihr die Hand. "Hauptbahnhof?" jammerte sie und rollte mit den Augen. Ich versuchte zu erklären, daß sie die Pause abwarten, um in die nächste.... "Hauptbahnhof!" wimmerte sie einen Ton schriller als zuvor und dann ließ sie die Schultern hängen, die Tüten fallen und in tiefster Not rief sie nach ihrer Mama. Ich legte meinen Stock ab und nahm sie in den Arm. Schniefend lehnte sie an meiner Brust. Ich war dankbar eine abwaschbare Jacke am Morgen angezogen zu haben. Nach einer Weile ebbte das Schluchzen ab und nach noch ein paar Streicheleinheiten über die Pudelmütze konnte sie wieder die Tüten nehmen und Anweisungen befolgen. Strahlend saß sie da und erzählte lautstark, was ich für eine tolle Frau sei. Ich war aber nicht toll, sondern echt aus dem Gleichgewicht und konnte mich nicht mehr erinnern, wo ich nun lang muß. Es gibt ja nur zwei Möglichkeiten in Bornheim, und ich hatte das Glück, den richtigen Ausgang zu finden. Ziemlich aufgewühlt kam ich bei meiner Freundin an.

Im Februar hatte ich wieder den Strom der Reisenden geteilt und den ersten Tunnel links genommen, mich auf dem Bahnsteig postiert.... da ging das Licht aus. Das mag einem Vollblinden am Bürzel vorbei gehen, mir, die ich noch lichtabhängig bin, macht es Angst. Um mich herum hörte ich, daß noch viel mehr Leute tief Luft holten und sich unwohl fühlten. Ein kurzes Flackern und Uhren und Anzeigetafeln blinkten, die Lampen flackterten und dann war es wieder hell. Wir entspannten uns. Zu früh, denn eine Stimme von oben riet uns, nicht auf die U-4 zu warten, weil die wegen einer Panne eine Weile nicht fährt. Adio, Leute, seht zu wie ihr euch zurechtfindet.

Ich nahm schnurstracks Kurs auf die Information und nach dem Weg nach Bornheim gefragt, bekam ich die Antwort, ich solle doch die U 4 nehmen. Leicht entnervt entgegnete ich, daß die ja grad keinen Strom hat. Der Informant blaffte, woher er denn das wissen solle, und ich röhrte ungehalten zurück, ob das nun eine Information sei oder nicht!! Kurz vor der Eskalation murmelte eine Frau hinterm Schalter was von Straßenbahnen. Ich wünschte mir einen Zettel, bekam einen Ausdruck mit Ameisenschrift und folgte der groben Richtung, die mir der Bahnbeamte gewiesen hatte. Nun ist "vor dem Bahnhof" eine recht wage Beschreibung. Ich lief anderen hinterher, hatte sogar Grün an der Fußgängerampel und stand tatsächlich bei den Straßenbahnen. Hier fuhr fast alles, aber keine ZWÖLF.

"Zwölf?" fragte ich und bekam eine Handbewegung, die von allem wegzuführen schien. "Zwölf?" klagte ich dem nächsten ins Ohr und war schon knapp an der Heulgrenze der pelzigen Drogensüchtigen, denn ich wurde erwartet und fühlte mich durch das Gewirr überfordert. Als ich in die pissige Unterführung hinabstieg, war meine Laune am Nullpunkt. Ein Obdachloser kämpfte mit seinem Schnürsenkel, erkannte erfreut, daß da jemand war, dem es grad anscheinend noch schlechter geht als ihm, und packte mich am Arm. Ich verkniff mir den Schrei nach meiner Mutter und gab mein Ziel an: Münchenerstraße. Die Nummer 12. Der Mann schnappte sich meinen rechten Arm, und somit hatte ich mit meinem Stock keinen Bodenkontakt mehr. Ein kurzes hartes Ringen, bis ich meinem Begleiter beibog, wie er mich zu führen hat. Er zog mich quer über eine sehr befahrene Fahrbahn, ich schloß die Augen, dann noch um eine Ecke und ich war am Ziel. Dort wurde ich einer jungen Frau übergeben, noch in Position geschoben und stolperte in ein Kellergitter. Mein Stock paßte grad so durch die Lücken und somit sauste ich abwärts bis zum Handgelenk. Als ich wieder stand, verabschiedete ich mich dankbar und drehte mich zu meiner neuen Begleiterin um. Die war mäßig begeistert, denn sie hatte nun zwei Leute an der Backe, die sie auf den Weg bringen sollte.

In der Straßenbahn konnte ich mich entspannen. Die Ansagen waren laut und deutlich, mein GEgenüber freundlich gesonnen, denn er versprach mich in Bornheim Mitte zur U-Bahn zu bringen. Dort gab es wieder Strom. Mit viel Verspätung kam ich bei Karin an.

Als ich daheim in Gießen ausstieg, kam mir jemand von der Bahnhofsmission entgegen und fragte, ob ich der MANN sei, den sie abholen solle. Von den Erlebnissen in der U-bahn war ich zwar etwas gebeutelt, aber mir war doch noch klar, daß ich eine FRAU bin. Erleichtert, daß es noch Verwirrtere als mich gibt, fuhr ich heim. Der nächsten Fahrt mit der U-Bahn sehe ich mit gemischten Gefühlen entgegen.

Ulrike Geilfus

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© 2004 by Ulrike Geilfus
Erstellt am Do, 18.03.04, 08:01:19 Uhr.
URL: http://anderssehen.at/alltag/passiert/u4.shtml

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