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Der Zauberwürfel

Vor einigen Wochen unterhielten wir uns in meiner Arbeitsstelle über das Thema, welche Spielsachen wir als Kinder gehabt hatten, und welches Spielzeug es jetzt für die heutigen Kinder gibt, besonders auch für blinde Kinder. Dabei fiel mir ein, daß ich vor längerer Zeit einmal so einen "magischen Würfel" besaß, den ein ungarischer Professor erfunden hat, dessen Namen ich mir aber nicht gemerkt habe. Die Flächen dieses Würfels bestehen aus verschieden farbigen Teilen. Für Blinde sind die Farben auf jeder Fläche etwa durch Kreise, Striche, Quadrate usw. gekennzeichnet. Die Schwierigkeit besteht nun darin, daß man den Würfel so drehen muß, daß auf jeder Fläche die gleiche Farbe zu sehen oder für Blinde ein Kreis, ein Strich, ein Quadrat usw. zu ertasten ist; jede Fläche besteht aus neun verschiedenen Teilen. Erst wenn jede Fläche des Würfels alle neun Teile mit der selben Farbe oder einem taktilen Zeichen aufweist, ist der Würfel richtig zusammengedreht. Das habe ich übrigens noch nie zustandegebracht.

Ich dachte mir nun, ich könnte mir beim Blindenverband wieder einmal so einen Würfel bestellen. Ich rief also dort an und bestellte mir so einen Würfel. Irgendwann, so dachte ich, würde ich ihn mir schon abholen kommen.

Die Zeit verging, und ich dachte schon gar nicht mehr an diesen Würfel. Auch die Themen in meiner Arbeitsstelle hatten sich wieder auf das Übliche, nämlich: Gewicht und Gewand, beschränkt.

Vor einigen Tagen geschah aber etwas Merkwürdiges: Als ich von der Arbeit nach Hause kam und, wie üblich, mein Postkastl öffnete, um zu sehen, was sich darinnen befand, ertastete ich im Postfach ein Couvert, in welchem ein Gefäß steckte. Ich versuchte nun, den Umschlag samt dem Gefäß aus dem Postkastl herauszuziehen, aber so sehr ich auch zog, schob und drückte, es gelang mir nicht. Was konnte das sein? Befand sich in diesem Couvert eine Kerze, ein Blumentopf oder ein Glas mit Honig oder Marmelade? Hatte ich von dem Buchclub ein Geschenk bekommen? Ich zog wieder an dem Umschlag.

Nach einer Weile kam eine Hausbewohnerin nach Hause. Diese bat ich, sie möge mir doch helfen. Jedoch auch ihr gelang es nicht, so sehr sie auch zog, schob und drückte. Wir wollten dabei ja auch keine Gewalt anwenden, denn sonst wäre vielleicht das Gefäß kaputtgegangen, oder das Metall des Postkastls hätte sich verbogen. Nun fragte ich die Dame, ob sie vielleicht etwas davon lesen könnte, was auf dem Couvert stand. Sie sah in das Postfach hinein, konnte aber nur das Wort: "Sendung" entziffern.

Inzwischen kamen immer mehr Leute nach Hause. Vor meinem Postkastl hatte sich nun schon ein ganz ansehnliches Grüppchen von Schaulustigen eingefunden. Alle wollten sie mir helfen, den Umschlag mit dem merkwürdigen Gefäß aus dem Postkastl zu ziehen, aber niemandem gelang es. Wir wunderten uns alle darüber, wie man etwas in ein Postkastl tun konnte, das man dann aber nicht mehr herausnehmen kann. Da sagte meine Nachbarin, die bei mir in meiner Wohnung aufäumt und gelegentlich nach dem Rechten sieht (deshalb hat sie auch einen Wohnungsschlüssel): "Der Briefträger hat wahrscheinlich die ganze Vorderfront aller Postkasteln abgenommen, daher hat er diesen Umschlag leicht hineinstecken können. Jetzt aber, wo die Vorderfront wieder geschlossen ist und sich jeweils nur ein Postkastltürchen öffnen läßt, kann man ihn nicht mehr herausnehmen. Wenn er morgen wieder kommt, werde ich ihn bitten, daß er mir den Umschlag wieder herausgibt. Ich lege ihn Ihnen dann in Ihre Wohnung, Herr Fast."

Für heute konnte also meine Neugierde (und wahrscheinlich auch die der anderen Hausbewohner) nicht mehr gestillt werden.

Aber gesagt, getan. Als ich am nächsten Tag wieder von meiner Arbeit nach Hause kam, fand ich auf meiner Kommode im Vorzimmer meiner Wohnung jenen Umschlag mit dem seltsamen Gefäß vor, der sich am Tag zuvor nicht aus dem Postkastl zerren ließ. Meine Nachbarin hatte ihr Wort gehalten, und der Briefträger hatte das Couvert wieder zum Vorschein gebracht.

Als ich nun den Umschlag und das Gefäß öffnete, das sich darin befand, da mußte ich herzlich lachen: Es war nämlich der magische Würfel, der sich in diesem Gefäß befand. So war es also wirklich ein "Zauberwürfel", der sich wohl ins Postkastl "hineinzaubern", nicht aber wieder herausnehmen ließ.

Egon Fast

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© 2003 by Egon Fast, Graz
Erstellt am Fr, 23.01.03, 11:01:19 Uhr.
URL: http://anderssehen.at/alltag/passiert/wuerfel.shtml

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