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Das Ziel ist wichtig, der Weg aber auch!
Bericht über eine Reise mit Hindernissen

Obwohl es das Telefon gibt und sogar Videokonferenzen, haben Menschen noch immer das große Bedürfnis, sich zu treffen, um über komplizierte Fragen zu diskutieren. So eine schwierige Materie ist die Reform der Braillemathematikschrift. Da in den seltensten Fällen diese Sitzungen in Wien stattfinden, muss ich als Vorsitzender der österreichischen Brailleschriftkommission häufig an die Konferenzorte reisen. Meist nehme ich den Nachtzug, weil sich so reisen und ruhen ideal verbinden lassen. Im Jänner dieses Jahres sollte ein Arbeitstreffen der Braillemathematikschriftreformgruppe in der Deutschen Blindenstudienanstalt in Marburg stattfinden. Die "Studentenstadt" in Hessen hat uns schon für einige Treffen Herberge geboten, ich kenne mich dort einigermaßen aus und habe mich deshalb entschlossen, ohne Begleitung zu fahren.

Meine erste Reisebekanntschaft hieß Kyrill. Wir sind uns nicht persönlich begegnet, aber ich habe ihn deutlich gehört. Er hat mich dazu gebracht, meinen Reiseplan aufzugeben. Es war am 18. Jänner 2007. Längst hatte ich Fahrkarten, Bettplatz und Reservierungen bestellt und per Kreditkarte bezahlt. Ruhig konnte ich an einem Teil der Sitzung der Leitung der Landesgruppe Wien des Österreichischen Blindenverbandes teilnehmen und mich nach Beginn der Pause zum Westbahnhof begeben. Endlich stand ich vor der Schalterbeamtin und nannte meine Kundennummer, um mir die Tickets ausdrucken zu lassen. Die Dame wies mich darauf hin, dass wegen des Orkans in Deutschland die Züge nur bis zur Grenze führen. Ich überlegte kurz und fragte dann, ob man im angehaltenen Zug weiter schlafen könne, was die Frau bejahte. Ich teilte ihr meinen Entschluss mit, doch zu fahren, aber als ich ihr die Abfahrtszeit meines Zuges nannte, meinte sie, dieser sei ganz gestrichen. Wollte ich versuchen, am nächsten Morgen nach Marburg zu fahren, würde ich einen vollen Tag, also zwei Drittel der Zeit der Besprechungen, versäumen. Ich beschloss daher, die Reise nicht anzutreten und erkundigte mich, wie ich meine Kosten rückerstattet bekommen könnte. Die Dame am Schalter sagte, sie müsse nun doch die Karten ausdrucken und mit diesen solle ich zu einem anderen Schalter gehen, um dort den Kostenersatz zu beantragen. Es blieb mir nichts anderes übrig als einzuwilligen und mich zum entsprechenden Schalter durchzufragen.

Die Warteschlange dort war enorm! Ich hatte genügend Zeit auf das zu hören, was die Leute redeten, die meisten benützten ihr Handy und es herrschte babylonisches Sprachengewirr. Das lange Telefonat eines Herrn ist mir noch gut im Gedächtnis. Er berichtete seinem Gegenüber, dass zwar der Flug von Amsterdam nach New York planmäßig stattfinden würde, dass er aber nicht mehr mit dem Zug nach Amsterdam kommen könne und deshalb einen Tag später in New York eintreffen würde.

Endlich war ich an der Reihe und der Schalterbeamte staunte nicht schlecht, als ihm nichts anderes übrig blieb, als das Rückerstattungsformular für mich auszufüllen. Schließlich war die Prozedur beendet und ich konnte die Heimfahrt mit der U-Bahn beginnen. Das Hotel in Marburg stornierte ohne Probleme meine Reservierung für eine Nacht. Zur Überraschung des Pfarrgemeinderates meiner Wohnpfarre konnte ich noch den Abschluss der Sitzung erleben, obwohl ich doch als entschuldigt galt. Wie gesagt, bin ich Kyrill nicht begegnet, ich habe ihn jedoch in der Nacht deutlich gehört. Überrascht waren auch meine Schülerinnen und Schüler, als ich um 8:00 Uhr des nächsten Tages den Klassenraum betrat. - Aus Mails und Telefonaten habe ich erfahren, dass auch die Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus Deutschland nicht zur Sitzung kommen konnten. Lediglich die Delegation aus der Schweiz, die schon früher angereist war, und die in Marburg ansässige Person konnten sich zu einem kurzen Gedankenaustausch treffen.

Zur Wiederholung des Treffens wurde für den 9. und 10. März eingeladen, das hieß für mich, am 8. März wegzufahren. Wie fast immer schlief ich ausgezeichnet, musste aber in Frankfurt feststellen, dass wir 15 Minuten Verspätung hatten. Mein Anschlusszug nach Marburg war weg. Ich hatte mir jedoch von Wien aus eine Umsteigehilfe organisiert und die wartete trotz oder gerade wegen der Verspätung auf mich. Bei der Fahrplanauskunft erkundigten wir uns wegen des nächsten Zuges nach Marburg. Die Wartezeit war gar nicht lange und bald stand ich im Großraumwagen des richtigen Zuges. Zwei Stimmen lenkten mich durch den freien Raum, der zum Abstellen von Fahrrädern und Kinderwägen gedacht ist, zu einem Sitzplatz. Ein merkwürdiger Geruch, den ich nicht sofort deuten konnte, lag in der Luft. Ich holte mein elektronisches Notizgerät mit Braillezeile hervor und begann zu lesen. Und da waren wieder die beiden Stimmen von jenseits des Ganges, junge männliche Stimmen, die sich neugierig nach dem Gerät erkundigten. Jetzt konnte ich auch den Geruch deuten: Bier, Schnaps, - Alkohol. Es war etwa 7:00 Uhr, die beiden hatten sich offensichtlich die Nacht in Frankfurt um die Ohren geschlagen und waren nun auf der Heimreise. Eine dritte Person musste noch im sonst leeren Wagon sein, aber diese Person schlief, wie ich dem Gespräch der beiden entnehmen konnte. - Das Thema Blindheit fesselte meine Mitreisenden. Sie stellten viele Fragen und einer erzählte über seine Probleme mit dem Sehen. Mit dem Lesen sollte es also nichts werden, oder doch.

Eine junge Frau in Uniform stieg ein und zog die Aufmerksamkeit der beiden Nachtschwärmer sofort auf sich. Beide bewunderten das gute Aussehen von Menschen in Uniformen, einer gab ein Liebesabenteuer mit einer Zöllnerin zum besten, kurz, die Dame - eine Polizistin wie sich herausstellte - wurde nun statt mir in die Gesprächsgemeinschaft aufgenommen. Der Polizistin blieb nichts übrig, als von ihrem Nachtdienst zu erzählen. Heute war sie nicht im Prostituiertenviertel in der Nähe des Frankfurter Bahnhofes gewesen, sondern hatte in einem anderen Stadtteil Streifendienst gehabt. Die beiden Übernächtigen wollten unbedingt hören, dass Polizisten dazu da sind, die Kiffer zu jagen, aber den Gefallen tat ihnen die junge Frau nicht. Sehr sachlich erzählte sie darüber, dass eine wichtige Aufgabe der Polizei darin bestünde, der Bevölkerung das Gefühl von Sicherheit zu vermitteln. Bald musste die Dame wieder aussteigen und eine Station später verließen auch die beiden Betrunkenen den Wagon, nachdem sie ihren Gefährten geweckt hatten. Ich saß alleine da, kein Schaffner kam.

In einer der nächsten Stationen hielt der Zug etwas länger und einer Durchsage konnte ich entnehmen, dass ein Zugteil nach Dillingen fahren würde, der andere an einen anderen Ort. In welchem Zugteil war ich? Auf welcher Strecke liegt Marburg? Niemand betrat den Wagon. Auszusteigen wagte ich nicht, denn es könnte ja in diesem Augenblick der Zug wieder anfahren. Was blieb mir übrig als sitzen zu bleiben, auf einen Schaffner zu warten und genau auf die Stationsansagen zu hören.

Kein Schaffner kam, Marburg kam auch nicht, aber nach langer Zeit die Durchsage "Dillingen". Jetzt wusste ich, dass ich im falschen Zugteil gesessen war. Also aussteigen und sich zum Schalter durchfragen. Mehrere lärmende Schulklassen behinderten mich, aber schließlich war der Schalter gefunden. Ich erfuhr, wann und mit welchem Zug ich zurückfahren müsste und eine Frau, die kaum Deutsch konnte, brachte mich zu einem Wagon, in den sie selbst auch stieg.

Diesmal kam ein Schaffner, ein sehr freundlicher Herr, dem ich meine Geschichte erzählte. Er organisierte für mich in Gießen eine Umsteigehilfe nach Marburg und meldete in Marburg, mit welchem Zug ich ankommen würde. - Nun konnte ich wieder beruhigt lesen!

Gegen 10:00 Uhr kam ich - über zwei Stunden verspätet - in Marburg an. In der Deutschen Blindenstudienanstalt war an diesem Tag eine große Hilfsmittelausstellung angesetzt, daher sollte unsere Tagung später beginnen. Es blieb für mich sogar noch die Zeit, zur Hilfsmittelausstellung zu gehen. Im Zug hörte ich, wie Leute über diese Ausstellung sprachen. Mein Versuch, sich ihnen anzuschließen, gelang jedoch nicht, da die Gruppe bereits ein Taxi bestellt hatte und kein Platz für mich im Wagen war. Beim Aussteigen zeigte mir ein Herr die Richtung, in die ich gehen sollte. Und da begrüßte mich auch schon eine junge Frau, vom Bahnhofspersonal, wie ich annahm. Ich durfte mich an ihrem Ellbogen anhalten und wir gingen eine gewisse Strecke, angeregt plaudernd. Plötzlich hielt meine Begleiterin und sagte, ich müsse nun alleine die Stiegen hinuntergehen, denn sie hätte ein Fahrrad bei sich und müsse einen anderen Weg nehmen, sie würde mich aber bei dem und dem Ausgang wieder abholen. Also doch keine Bahnbedienstete, sondern eine "einfache" Reisende. Leider war die Erklärung, wie ich zum Ausgang kommen könnte, etwa so abgefasst: "Sie gehen am Blumengeschäft und an der Bäckerei vorbei und wenden sich bei der Glaswand nach links." Das half mir nicht wirklich weiter und so ging ich den klappernden Blindenstöcken nach, denn die blinden Menschen wollten sicherlich auch den Bahnhof verlassen. Draußen angekommen fand mich meine Begleiterin wieder, obwohl ich einen anderen Ausgang genommen hatte. Sie brachte mich zum Taxistand und ein Auto von dort zur Hilfsmittelausstellung.

Einen Tag später traten zwei Arbeitsgruppenteilnehmerinnen aus Leipzig ihre Rückreise etwa zur selben Zeit wie ich an. Eine Begleitung zum Bahnhof war mir sicher. Wegen des frühen Tagungsendes sollte es möglich sein, mit dem Tagzug nach Wien zurück zu kommen. Ich bestieg den Zug, der plangemäß abfuhr. In Frankfurt hatte ich wieder nur relativ wenig Zeit zum Umsteigen, aber was sollte schon in den etwa 45 Minuten der Fahrt von Marburg nach Frankfurt geschehen? - Es geschah mehr, als ich mir vorstellen konnte. Zunächst blieb der Zug wegen eines technischen Gebrechens länger als geplant auf einem Bahnhof stehen. Dann wurde die Meldung durchgegeben, dass der Zug vor uns einen "Unfall mit Personenschaden" - die Umschreibung für einen Selbstmord in Deutschland - hatte und unser Zug daher umgeleitet werden müsse. Mit dreißigminütiger Verspätung kamen wir am Frankfurter Hauptbahnhof an. Meine Umsteigehilfe wartete wieder und brachte mich zum Informationskiosk. Die Frage war, ob es für mich an diesem Tag noch einen Zug nach Wien gäbe. "Ja", war die Auskunft, allerdings mit Umsteigen in Passau und Wels. Auf mein Ersuchen telefonierte der Angestellte mit Passau und erfuhr, dass dort eine Begleitung beim Umsteigen möglich wäre. Der Bahnhof in Wels würde jedoch um 23:30 Uhr - zur Zeit meines Umsteigens - nicht mehr besetzt sein. Also doch wieder ein Nachtzug! Um ca. 0:00 Uhr ging einer ab München. Meine Karten wurden umgeschrieben und ich konnte noch einen Bettplatz ergattern. Nun hatte ich Zeit. Im Bahnhofsrestaurant konnte ich in Ruhe mein Mittagessen nachholen und anschließend in der Bahnhofsmission auf den Zug nach München warten. - Das Umsteigen in München klappte dank Begleitung hervorragend. Der Liegeplatz war nicht besonders komfortabel, aber ich hatte immerhin ein Abteil für mich. Knapp vor Wien gab es dann auch noch "Frühstück", einen Sandwich und Sunkist im Packerl. Um 7:00 Uhr war ich zu Hause. 19 Stunden zuvor hatte ich Marburg verlassen!

Ach ja, die Tagung! Es ist vereinbart, dass über Zwischenergebnisse der Besprechungen nicht informiert wird und daran muss ich mich halten. Das Spannende waren ja diesmal nicht die Diskussionen, sondern das Drumherum! Ich hätte doch besser den Nachtzug nach Wien nehmen sollen!

Erich Schmid

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© 2007 by Erich Schmid
Erstellt am Fr, 21.09.07, 09:01:19 Uhr.
URL: http://anderssehen.at/alltag/reise/hindernisse.shtml

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