Hallo ihr lieben Daheimgebliebenen
Ich sitze in einem Internetcafé in New Delhi und will versuchen, Euch ein wenig von meinen Wochen im Iran und in Pakistan zu erzählen. Da ich dies ohne visulle oder sonstige Kontrolle auf einer mir fremden, englischen Tastatur tue, lässt der Text vielleicht einiges zu wünschen übrig, aber lieber so als gar nicht.
Als ich am Dienstag früh die Grenze nach Indien überquerte, kam es mir vor, als ob ich einen Koffer voller Geschenke mit mir schleppte. Der Koffer enthält eine kleine Abteilung namens "Iran" und eine viel grössere namens "Pakistan". Als ich am 15. November in Frankfurt ins Flugzeug nach Teheran stieg, wusste ich noch nichts von diesem Koffer. Da war alles noch leer. Doch während der folgenden Wochen begann sich dieses Wunderding zu füllen. Geschichten, Begegnungen, Beobachtungen, Gedanken - zu viele, um sie hier alle zu erzählen -, und über allem der Geruch von einer grossen Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft.
Der zweiwöchige Unterbruch meiner Reise hatte meinen Zeitplan einigermassen durcheinander gebracht. Deshalb habe ich mir für den Iran nur wenig Zeit nehmen können. Ich kam Abends relativ spät in Teheran an, wo mich Moshen, ein Bekannter des Mannes einer Freundin meiner Freundin Denise, in Empfang nahm. Er hatte einen weiteren Freund mitgebracht, da Moshen selber nur wenig Englisch sprach. Die beiden halfen mir ein Hotel zu finden und begleiteten mich am nächsten Tag auf die Schweizer Botschaft, wo ich Grüsse von meinem Bruder Thomas ausrichtete und mich in seinem Namen für die unkomplizierte Hilfsbereitschaft bedankte, auf die er dort gestossen war, als er wegen des Todes meiner Mutter Ende Oktober versucht hatte, mich im Iran, wo die Familie mich vermutet hatte, zu finden. Ich wollte die Gelegenheit benutzen und erkundigte mich noch einmal nach der Gefährlichkeit meines Unternehmens, insbesondere nach den Risiken im Grenzgebiet von Iran und Pakistan. Ich merkte bald, dass die beiden Botschaftsangestellten im Grunde keine Ahnung von der konkreten Reisesituation in dieser Gegend hatten. Sie wiederholten nur, was auf der Webseite des EDDA - eidgenössisches Departement des Äusseren - zu lesen ist. Von Zugverbindungen und Ähnlichem wussten sie nichts. Auf irgendwelche Zwischenfälle in dem Gebiet angesprochen, berichteten sie von ein, zwei Vorfällen im vergangenen Jahr - Nun. Ich liess es schliesslich bleiben und nahm mir vor, mich vor Ort noch einmal zu erkundigen. Am Nachmittag desselben Tages machte ich mich nach Isfahan auf, eine etwa fünfstündige Busfahrt von Teheran aus.
In Isfahan nahm mich ein Freund des Bekannten des Mannes der Freundin von Denise in Empfang. So wie Moshen war auch Shamir offenbar überzeugt, dass ein Mensch aus dem Westen nur in einem Hotel übernachten kann, in dem er ein Westklo sowie Kühlschrank, Fernseher und Telefon hat. Da diese Hotels 1. teuer und 2. meist ziemlich langweilig sind, versuchte ich ihn zu überzeugen, dass es doch sicher auch andere möglichkeiten gäbe. Schliesslich landete ich irgendwo in der Mitte - Kühlschrank bzw. Minibar, Fernseher, Telefon aber indisches Kauerklo.
Isfahan ist bekannterweise eine prächtige Stadt. Ihr grosser Hauptplatz mit dem XYZ-Palast und der grünen Moschee - oder ist sie blau? - sind ein Muss für jeden Iranreisenden. Also habe auch ich es versucht und Shahims Angebot, mir diese Herrlichkeiten zu zeigen, angenommen. Der Erfolg des Unternehmens war mässig. Da Shahims englisch einigermassen begrenzt war, gingen seine Erklärungen nicht wesentlich über "very beautiful" und "yes, is Mosk" hinaus. Ich tappte neben ihm her und versuchte, mir aus den spärlichen Erläuterungen und den gelegentlichen Geräuschen irgend ein Bild zusammen zu reimen. Das Ergebnis blieb unbefriedigend, und der Frust wuchs. Vielleicht ist das mit dem blinden Touristen doch keine so gute Idee. Jedenfalls mit Sightseeing muss ich vorsichtiger sein. Shahim gab sich Mühe, und ich natürlich auch, aber dass ich Isfahan gesehen habe, kann ich dennoch nicht behaupten. Also auf nach Yaazd, weitere 4 Zugstunden südlich von Isfahan. Dort kannte ich niemanden, dort musste ich alleine über die Runden kommen.
Nun ja, es ging in Yaazd wie es seither an vielen Orten gegangen ist. Ich stieg aus dem Zug aus, wartete ein wenig und überlegte, was jetzt zu tun sei, als jemand meinen Arm ergriff und mich irgendwohin - in Richtung Bahnhofsausgang und Zivilisation nehme ich an - führte. Ich sagte nur "Thank you" und dann "Taxi?", worauf ich einem anderen Menschen übergeben wurde, mit dem ich eine ähnlich reiche Unterhaltung hatte. Dann standen wir auf dem Bahnhofplatz, und ich begann mit vier oder fünf Männern über mein angestrebtes Hotel zu diskutieren. Das Silkroad Hotel - vom Lonely Planet empfohlen - war ihnen kein Begriff und sie einigten sich schliesslich darauf, dass das Cohan Hotel meinen Wünschen wohl am nächsten kommt, verfrachteten meinen Rucksack in den Kofferraum und mich ins Taxi.
Tatsächlich war das Cohanhotel eine gute Wahl. Während der zwei Tage, die ich in Yaazd zubrachte, adoptierte mich der Hotelmanager als eine Art Privatgast, ein interessanter Vogel, mit dem sich vielleicht auch ein wenig Werbung für sein Hotel machen liesse. Als ich am Donnerstag Mittag zum Mittagessen aus dem Hotel wollte, fand er dies jedenfalls keine gute Idee. Man würde mir das Essen bringen, das sei viel klüger. Eine richtige Erklärung gab es zunächst nicht. Erst etwas später wurde klar, was da vor sich ging. Er hatte mittlerweile das lokale Fernsehen informiert, und er wollte um keinen Preis riskieren, dass der Vogel vielleicht ausgeflogen ist, wenn das Fernsehen anrückt. Zum Glück kam die Truppe schnell, sodass ich am Nachmittag wieder frei war. Es gab ein regelrechtes, peinliches Interview, in dem ich über meine Reiseerfahrungen und die Freundlichkeit der Menschen im Iran sprechen und ein paar lobende Worte über das Cohanhotel sagen sollte. Danach war ich, wie gesagt, frei, und ich beschloss, es mit der Welt ausserhalb des romantischen, ruhigen Hotels zu versuchen.
Wieder erlebte ich etwas, was ich seither oft erlebt habe. Ich sitze zuerst im Hotel und denke darüber nach, was ich dort draussen überhaupt will. Ich habe allerlei Vorstellungen darüber, wie es dort ist - laut, unangenehm, zu schwierig für mich - und will eigentlich nicht raus. Schliesslich gebe ich mir einen Schubs und gehe und meistens ist das, was dann passiert, nicht halb so mühsam oder langweilig, wie ich es mir in meinem Pessimismus vorgestellt habe. Im Gegenteil. Ich merke immer wieder, es lohnt sich, dem Leben da draussen eine Chance zu geben.
Yaazd ist eine alte Wüstenstadt. Die Strassen der Innenstadt, in der mein Hotel lag, sind so eng, dass es dort kaum Autos und nur wenige Motorräder gibt. Die Häuser sind, wie in diesen Gegenden üblich, ganz um einen Innenhof - häufig kombiniert mit einem Gartenteil - angelegt. Ich tappe vorsichtig durch die stillen, sonnigen Strassen, immer auf der Hut vor irgendwelchen offenen Kanalisationsschächten und ähnlichen Schrecknissen für den blinden Drittwelttouristen... Meine Hände gleiten über unregelmässig verputzte Mauern. Nur hie und da stosse ich auf eine Türe. Ich betaste alles eingehend. Sight seeing der besonderen Art denke ich und ertappe mich bei ersten Anflügen von Langeweile. Mauern sind ja interessant, auch kulturell! Aber immer nur Mauern? Das kann's ja wohl auch nicht sein.
Nach einigen Minuten kamen mir ein paar Iranis entgegen, die sich in passablem Englisch nach meinen Woher und Wohin erkundigten. Wir hatten uns bereits wieder getrennt, als zwei der Gruppe zurückgerannt kamen. Sie gingen eben in einen Deutschkurs für zukünftige Tourguides. Ob ich nicht mitkommen wolle. Fünf Minuten später sass ich in einem kühlen Schulzimmer in irgend einem Hinterhaus, eine Treppe hoch. Die Stunde war nicht gerade berauschend, was auch meine gähnenden Nachbarn fanden. Anschliessend ging die Diskussion darüber los, was wir jetzt tun könnten. Nach einigem Hin und Her waren die Pläne gemacht, und ich verbrachte einen vergnüglichen Abend mit Moshem dem Zweiten und einigen seiner Freunde. Ein erster Höhepunkt war die Besteigung eines Minaretts. Moshem prustete hinter mir her. Er sei noch nie hier oben gewesen. Das sei ja furchtbar hoch. Doch als wir oben waren, lobte er Allah mit lauter Stimme und war begeistert, seine Stadt dank mir endlich einmal aus dieser Perspektive zu sehen. Danach besuchten wir eine Übungsstunde einer lokalen Kampfsportgruppe. Das Keulenschwingen der Männer ging einigermassen an mir vorbei. Doch das Getrommel und der Gesang der begleitenden Musikgruppe waren eindrücklich. Neben der Schulung von körperlicher Kraft und Geschicklichkeit ging es offenbar auch um die Stärkung des eigenen Ich und um eine Art moralischen Trainings. Ehrlichkeit, Tapferkeit und moralische Reinheit waren jedenfalls die Kernworte, mit denen die Kämpfer angefeuert wurden. Anschliessend an dieses offene Training besuchten wir ein Konzert mit traditioneller iranischer Musik, welches zufällig am selben Abend statt fand. Kaum hatten wir unsere Plätze eingenommen, kam eine Frau auf uns zu, die von ihrem Bruder schwärmte, der heute Abend singen sollte. "Der beste Sänger der Welt", meinte sie. Dann sagte sie plötzlich, sie müsse jetzt wieder auf die Frauenseite zurück. "Die Sittenpolizei will es so. Wenn die Lichter ausgehen und das Konzert beginnt, komme ich wieder. Dann sitzt der Polizist draussen, und wir können wieder tun was wir wollen." Reste der grossen islamischen Revolution von 1979, an die im Iran heute kaum noch jemand glaubt, jedenfalls niemand von den Menschen, mit denen ich gesprochen habe. "Wir haben ursprünglich alle daran geglaubt. Waren von Chumeni begeistert. Aber vor allem seit der Krieg mit dem Irak vorbei ist, haben sich unsere religiösen Führer als so korrupt und doppelzüngig erwiesen, dass die Sache für uns heute endgültig tot ist", erzählt mir einer meiner Begleiter. Und was er sagt, scheint der allgemeinen Stimmung im Iran so ziemlich zu entsprechen. Zumindest in den Städten ist die Anhängerschaft der Revolution stark zusammengeschrumpft, und die alten Sittenwächter werden kaum mehr ernst genommen. "Der Krieg war für uns ein Wendepunkt", erklärt mir eine iranische Ärztin, die ich im Flugzeug nach Teheran getroffen habe, ein paar Monate später. Sie war damals Mitglied der kommunistischen Partei Irans. "Auch wir Kommunisten haben die Revolution im Prinzip begrüsst. Endlich eine Art politische und kulturelle Eigenständigkeit; nicht diese dauernde Abhängigkeit von den USA. Auch den Krieg haben wir akzeptiert. Er wurde uns aufgedrängt: Die Amis schickten die Iraker vor, weil sie uns klein kriegen wollten. Da konnten wir nicht gegen den Krieg sein. Aber als Chumeni dann all diese Kinder in den Krieg schickte - hunderttausende! - da protestierten wir. Es gab genügend erwachsene Männer. Wie kann er Kinder - 10, 12jährige - ohne Ausbildung, ohne Waffen, ohne Training - an die Front schicken? Das ist Mord! Erst da sagten wir "nein" zu Chumenis Politik. Na. Was danach aus diesem heuchlerischen Regime geworden ist, brauche ich nicht zu erzählen. Wir mussten dann fort. Aber heute bin ich stolz auf mein Land. Die Menschen wehren sich - zumindest in den Städten und an den Universitäten -, und sie sind so klug und so frei in ihrem Denken! Auch die Frauen!"
Der Genuss des Konzertes war leider etwas dadurch beeinträchtigt, dass alle Instrumente - Trommeln, Violine, diverse Zupfinstrumente und Gesang - durch einen völlig überlasteten Lautsprecher auf uns schepperte, sodass viele Nuancen verloren gingen. Immerhin: Das Konzert war gut und die Musik ist spannend.
Ich merke schon, dass es so mit meinem Schreiben nicht geht. Da ist der Koffer mit all den iranisch-pakistanischen Päckchen drin, und wir sind noch immer dabei, das erste dieser Erlebnispakete auszupacken. Wir sind erst in Yaazd ... das war vor vier oder fünf Wochen! Kann ich denn wirklich nicht schneller erzählen? ... Ich verstricke mich zu sehr in Einzelheiten, kümmere mich zu viel um Stil, anstatt einfach das Wichtigste zu schreiben - "einfach"? Das "Wichtigste"? Und wenn nun einfach alles wichtig ist? - Und doch, ich bin in Delhi und ihr, ihr seid noch im Iran! Im Hintergrund läuft ein Kricketmatch, um mich sitzen vielleicht sechs andere Touris und checken ihre Mails. Vor einer halben Stunde kam der Manager des Internetcafés und schlug vor, meinen langen Text doch einmal zwischenzuspeichern, "just in case". So fürsorglich sind die Menschen.
Apropos fürsorglich. Als wir nach dem Konzert an jenem Abend in Yaazd in einem Restaurant sassen, klingelte Moshens Handy. Am Apparat war der Nachtportier des Cohan Hotels. Er mache sich Sorgen, wo ich wohl sei. Sie hätten mich seit dem Nachmittag nicht mehr gesehen. Fragt mich nicht, wie er die Nummer von Moshem herausgefunden hat. Er hatte uns um fünf kurz zusammen gesehen, als ich im Hotel vorbeiging, und irgend jemand dort musste irgendwen gekannt haben, der ihn kannte - So viel nur zum Thema Fürsorglichkeit.
In Yaazd bereitete ich mich seelisch auf den "grossen Sprung nach vorn", d.h. auf die Überquerung der iranisch-pakistanischen Grenze vor. Irgendwann am Nachmittag fuhr mein Bus nach Zahedan, wieder rund 12 bis 14 Stunden südlich von Yaazd. Von dort geht es per Minibus oder Shared Taxi zur einzigen Grenzstation zzwischen Iran und Pakistan.
Im Bus nach Zahedan schien niemand Englisch zu sprechen. So zog ich mich in Doris Lessings "und wieder die Liebe" zurück und fragte nur hie und da schüchtern "Zahedan? Zahedan?". Um fünf Uhr in der früh tippte mir jemand auf die Schulter - ich war mittlerweile eingeschlafen - und sagte: "Zahedan". Ich krabbelte aus dem Bus und fragte sicherheitshalber noch einmal "Zahedan"? Die Antwort war beruhigend. "Yes, Zahedan". Darauf ich mit ermutigendem Grinsen und auf mich deutend "Pakistan border, Pakistan border". Nach einer kurzen Rückfrage und weiterem Kopfnicken und Lächeln meinerseits nahm mich jemand an der Hand und brachte mich zu einem weiteren Jemand, dem er auf Farsi oder in einer anderen, mir nicht verständlichen Sprache irgendetwas erklärte. Dann übernahm dieser meine Hand und übergab mich bald einem dritten Menschen und so fort. Ich unterstützte diesen Transfer lediglich durch ein gelegentliches "pakistan border" und durch ausgiebiges Lächeln und Kopfnicken. Die Staffette endete schliesslich bei einem Taxi. "We wait for other customer. If not other customer more expensive". Nach etwa zehn Minuten kam tatsächlich noch ein Customer und wir fuhren los.
Mein Mitfahrer, ein Afghane von mitte 60, schimpfte während der ganzen rund 80 km zum Grenzübergang in ausgezeichnetem Englisch über die verdammten Amerikaner. "What are you doing to us. You have no business over here …" ich versuchte ihn zu beruhigen, indem ich ihm heftig zustimmte und hie und da darauf hinwies, dass ich selber kein Amerikaner sei. Ich weiss, das war schäbig - so eine Art Weisswaschen auf Kosten seiner Freunde, aber das Gebrüll des Löwen klang grausig. Man kann ja nie wissen, dachte ich mir, und hoffte, dass die Aufregung dieses alten Afghanen nicht zu einem Flächenbrand führen würde. Es war die einzige Begegnung während der gesamten beinahe vier Wochen in Pakistan, in der ich diese Art von ungefilterter Wut erlebt habe. Der brüllende Löwe benahm sich an der Grenze bereits ganz freundlich und übergab mich schliesslich einem Beamten, der mich durch die anstehenden Formalitäten führte. Dabei bestand meine Hauptarbeit darin, geduldig auf meinem Plastikstuhl zu sitzen und zu warten ...
Ja. Warten müsst auch Ihr jetzt, denn in einer Stunde brechen wir von Delhi nach Dharamsala, dem Sitz der tibetischen Exilregierung, auf. Ich weiss nicht, wann ich Euch das nächste Mal schreiben kann. Ich hoffe immerhin, dass es nicht zu lange hin sein wird.
Für heute lebt jedenfalls wohl und ... ja, stimmt: schöne Weihnachten. Hier merke ich nicht viel davon, aber bei Euch sind die Vorbereitungen sicher seit Wochen in vollem Gange!
© 2005 by Martin Näf, Basel
Erstellt am Mo, 28.08.06, 09:01:19 Uhr.
URL: http://anderssehen.at/alltag/reise/indien/2.shtml