Hallo ihr Lieben!
Wie es jetzt wohl zu Hause bei Euch ausschaut? Hier wird es täglich heisser, obwohl wir offiziell immer noch Winter haben. Ich sitze im T-Shirt in einem Internet-Café, während draussen die Sonne vom Himmel brennt. An der Decke kreist ein Ventilator, etwas, was ich vor zwei Wochen noch als unnötigen Luxus empfand. Mittlerweile habe ich mich sogar bereits daran gewöhnt, mit dem Flattern des Ventilators einzuschlafen. Dieser sorgt nicht nur für ein angenehmes Lüftchen im heissen Gemach. Er unterbindet auch die Luftangriffe der Moskitos, deren Zahl während der letzten zehn, zwölf Tage ebenfalls deutlich angestiegen ist. Dass man irgendwo auf dieser Erde auch kalt haben könnte, kann man sich hier mittlerweile kaum mehr vorstellen. Doch genug des Vorgeplänkels! Nach meinem letzten, üppigen Rundbrief, der hoffentlich in irgendeiner Form bis zu Euch durchgedrungen ist, versuche ich heute noch einmal, das dauernde Rennen mit der Zeit endlich zu gewinnen.
In meinem letzten Brief sind wir bis zur Krishnamurtischule in Varanasi vorgestossen. Das war vor 5 Wochen, am 14. Januar. Vicky und ich blieben danach noch eine Nacht in der berühmten, von mir nicht sehr geliebten Stadt am Ganges. Den Samstag verbrachten wir mit Geldwechseln, mit dem Organisieren eines Eisenbahnbillets und mit dem Abschicken eines Paketes. Dies klingt nach wenig, aber in Indien, WO VIELES ETWAS ANDERS IST ALS BEI UNS, kann dies bereits ein Tagesprogramm sein.
Mit dem Paket geht man beispielsweise nicht einfach zur Post. Man geht vielmehr zuerst einmal zum Schneider. Der vermisst die zu versendende Ware, schneidet ein Stück Stoff zu und näht dann alles in diesen ein. Packpapier oder Kartonschachteln sind hier (vielleicht wegen der grossen Luftfeuchtigkeit während der Monsunzeit) unüblich. Wenn nichts dazwischen kommt, kann das ganz flott gehen, doch irgend etwas kommt fast immer dazwischen. In unserem Falle dauerte es zwei Stunden, bis wir unser Paket in Händen hielten, denn da am Tag vorher das Fest des Drachenfliegens war, waren nur wenige Geschäfte geöffnet, und erst der dritte oder vierte Schneider erbarmte sich unser. Die anderen wollten so früh am Morgen kein Paket nähen. Nun, ein wenig Warten und Teetrinken gehört immer dazu, und das dreijährige Mädchen des Schneiders tat ihr Bestes, mich bei Laune zu halten. Schliesslich war es so weit, und wir konnten zur Post. Aber Achtung: Pakete ins Ausland werden in Varanasi beispielsweise nur von der Hauptpost entgegengenommen. Auf die Frage, wie wir am besten zur Hauptpost kommen, entspann sich eine angeregte Diskusion zwischen dem Schneider, einigen Passanten und den Besitzern der benachbarten Shops. So genau scheint man nicht zu wissen, wo diese Post ist, 1 km entfernt meinen die einen, die andern sagen 2 oder 4 km. Auch in Bezug auf die Himmelsrichtung bestehen (oft in ein und demselben Kopf) verschiedene Theorien. Schliesslich beraten wir uns mit dem Fahrer einer Bicycle/Riksha, der offenbar Bescheid weis und bereit ist, uns für 20 oder 30 Rupien an den gewünschten Ort zu bringen. Die Fahrt dauert fast 30 Minuten - viel Getute und Gewusel von Kühen, Fussgängern, Lastwagen, Autorikshas und allem, was Indien in Sachen Verkehrsmittel zu bieten hat.
Um halb zwölf sind wir bei der Post. Wir finden auch einen Eingang, werden aber sofort wieder hinausgeschickt, da dies erstens nicht der richtige Eingang und unser Paket zweitens nicht ordnungsgemäss versiegelt ist. Wir müssen also zunächst auf die andere Seite des Platzes, wo ein freundlicher Mensch vor einer KLEINEN Bretterbude - OFFENBAR einer Art Aussenstation der Post - sitzt. Er empfängt uns würdevoll und tropft nach einigem Hin und her die Naht unseres Paketes mit Siegelwachs zu. Danach drückt er uns noch einen Filzstift in die Hand, damit wir das Paket adressieren können. Dann geht's zurück zur Post.
Diesmal versuchen wir's mit einem anderen Eingang. Viele Menschen, viele Schalter. Jemand zeigt Vicky und mir wo wir uns anzustellen haben. Als er merkt, dass wir noch immer nicht recht wissen, was es jetzt zu tun gilt, holt er - Postbeamter, freundlicher Kunde oder Bakschischjäger - von irgendwoher zwei oder drei Zollformulare und beginnt diese mit unserer Hilfe auszufüllen. Während wir damit beschäftigt sind wird unser Paket gewogen, und der Preis wird bestimmt. Danach müssen nur noch die Marken draufgeklebt und das Ganze bezahlt werden, was höchstens zehn Minuten dauert, falls nicht gerade die Mittagspause beginnt oder der Leim für die Marken verschwunden oder eingetrocknet ist. Was dies angeht, hatten wir Glück. Um eins waren wir fertig, und der Rikshafahrer, der eine gute Stunde auf uns gewartet hatte - "no problem, uncle, no problem" -, brachte uns zurück zu unserm Guest House, wo ich die nächste Aktion (Einlösen von Travellor Checks) vorbereitete... Wie gesagt, scheinbar einfache Dinge können hier sehr lange dauern.
Am Abend des 15. Januar verliessen wir Varanasi. Wir fuhren mit dem Nachtzug nach Kolkata, wo wir - mit vier oder fünf Stunden Verspätung - am kommenden Nachmittag ankamen. Kolkata ist riesig, und da man dort kein Hindi, sondern Bengali spricht, war diese Stadt auch für Vicky kein Heimspiel. Als Provinzler mit ziemlich begrenzter Schulbildung weiss er eigentlich auch nichts über Kolkata. Ob ein Stadtteil alt oder neu ist, ob ein Gebäude noch aus britischer Zeit stammt oder nicht, was in Kolkata kulturell und politisch los ist etc. das sind Dinge, über die er aufgrund mangelnder Erfahrung und mangelnden Wissens nichts sagen kann; es sind Dinge, die ihn bisher auch noch nie interessiert haben. Insofern sind seine Fähigkeiten als Reiseführer also kläglich. Sonst aber ist er ein unterhaltsamer, faszinierender und ausgesprochen angenehmer Begleiter und Helfer. Nicht nur, dass er mir viel über den Alltag in Indien erzählt. Er ist auch unglaublich geduldig und in einer Weise aufmerksam und anhänglich, wie ich es in unseren Breiten eigentlich nur bei Kindern erlebe.
Vickys Art mich zu führen widerspricht allen Regeln der Kunst. Er nimmt mich manchmal an der Hand, manchmal legt er mir einen Arm um die Schultern oder er fasst mich mit beiden Händen um meine Hüften um mich zwischen irgendwelchen parkierten Rikshas durchzuschleusen. Es geschieht alles mit viel Humor und Leichtigkeit und bewährt sich auch im grössten Chaos wunderbar. Seine ungenierte Anhänglichkeit und Zärtlichkeit hat mich anfänglich ziemlich verwirrt. Vor allem während der ersten Tage unserer Reise sucht er immer wieder meine Nähe. Im Zug lehnt er sich an mich, um ein wenig zu schlafen, oder er nimmt meine Hand, streichelt sie oder fängt an, meine Finger zu massieren. Wenn ich mir bei einem Strassenverkäufer etwas ansehe oder stehen bleibe, um mit jemandem zu reden, hängt er sich mir von hinten um den Hals wie es bei uns allenfalls noch zehn- oder 12jährige tun würden.
Anfänglich hat mich dieses Verhalten, wie gesagt, ziemlich verwirrt. Er ist immerhin 21 und - naja - ich bin für seinen Charme nicht unempfänglich. Mittlerweile habe ich mir jedoch sagen lassen (und es auch an Anderen erlebt), das Vickys Verhalten und seine zutraulich kindliche Art typisch für viele junge Inder sei. Er lebt, was seine Sexualität (und Sexualität im Allgemeinen) angeht in einem Zustand naiver Unbewusstheit -, vielleicht so wie es bei jungen Männern in der Schweiz oder in Deutschland vor 50 oder 100 Jahren der Fall war. Sexualität ist im Indien der einfachen Leute ausserhalb der Ehe bis jetzt zumindest offiziell nicht zu haben. Die Frage, was die 15-, 20- und 25jäherigen Männer (und Frauen) mit ihren sexuellen Bedürfnissen machen, wird auch unter guten Freunden kaum je offen diskutiert. Wenn das Thema in der Öffentlichkeit auftaucht, dann in mehr oder weniger überhöhter Weise im Rahmen eines Liebesfilmes oder als medizinisches oder soziales Problem.
Indien und Pakistan sind Gesellschaften, in denen es keine breitenwirksame Aufklärung, keine Wandervogel- und Jugendbewegung, keine 68er-Bewegung und keine sexuelle Revolution gegeben hat. Dazu passt, dass Vicky mich bei aller Sympathie und Freundschaftlichkeit nach wie vor "uncle" nennt. Mich "Martin" zu nennen ist für ihn unvorstellbar. Als älterer Mensch stehe ich für ihn gefühlsmässig immer über ihm.
Die Hauptunternehmung während unserer drei Tage in Kolkata war der Besuch von Belur Math, dem organisatorischen Zentrum der "Ramakrishna-Bewegung". Meine relativ oberflächliche Bekanntschaft mit dieser mittlerweile rund 120 Jahre alten hinduistischen Reformbewegung (nicht zu verwechseln mit der Hare-Krishna-Bewegung) verdanke ich, drei Mal dürft ihr raten, den alten Gehebs: Für Edith Gehebs innere Entwicklung war die Begegnung mit der aufgeklärten Religiosität der zu Beginn der 1930er Jahre durch Europa tingelnden Swamis (Swami = Mönch) dieser Bewegung entscheidend. Ich - offenbar doch wesentlich mehr Forscher als Gottsucher - wollte die Gelegenheit benützen, um herauszufinden, ob es in Belur Math (Math = Kloster) evtl. ein Archiv der in Indien vor allem sozial engagierten Ramakrishna-Bewegung gibt. Auch an neuerer, bei uns nicht oder nur mit grösstem Aufwand aufzufindender Literatur war ich interessiert.
Obwohl ich mich nirgends angemeldet hatte, war der Besuch ein voller Erfolg: Während hunderte von VerehrerInnen Ramakrishnas aus ganz Indien in den Tempel strömten, trug ich mein Anliegen einem scheinbar nur Bengali sprechenden Aufseher vor dem Tor des Verwaltungsgebäudes der Mission vor. Dieser holte umgehend einen seiner Vorgesetzten, und nach fünf Minuten war ich bereits bis zur Chefetage vorgedrungen. Dort gab es Tee und Kekse, und nach einer weiteren halben Stunde war ich in ein äusserst spannendes Gespräch mit einem älteren Mönch vertieft. Dieser heute für die pädagogischen Projekte der Ramakrishnabewegung zuständige Herr hatte selbst bei einem der Swamis studiert, mit denen Edith Geheb damals gearbeitet hatte. Da war's mir denn wie ein grosses Heimkommen! Endlich wieder eine Welt, in der ich mich auskenne, überschau- und handhabbar, ein kleines, hübsch geordnetes Universum von Worten und Ideen, statt der zahllosen in Hitze, Lärm und unverständliche Sprachen getauchten Widersprüche des in der Sonne vor sich hinbrütenden Indiens! Wie herrlich, die frische Luft der Erkenntnis zu atmen und sich hoch über dem Volk, das sich auf den Strassen Kolkatas oder auf den Ghats Varanasis drängelt, über die Grundprobleme des Ostens und des Westens Rechenschaft zu geben. Kein Autolärm, kein Gestank von Urin, kein Poliokind, das mich am Hosenbein zupft, um seine zwei oder fünf Rupien zu kriegen! Kein fruchtloses Fragen nach Informationen, die dann doch nicht stimmen oder die es nicht zu geben scheint.
Belur Math war also ein Erfolg. Sogar zwei Bücher habe ich dort erstanden. Ansonsten habe ich von Kolkata wenig mitgekriegt, doch die wenigen Eindrücke der als äusserst verschmutzt und arm geltenden Stadt haben in mir eine gute Lust auf mehr zurückgelassen. Für Vicky war die Stadt allerdings schwierig, nicht nur wegen der Sprache, sondern auch wegen der drei Geheimpolizisten, die ihn während einer unserer Marktspaziergänge plötzlich ins Verhör nahmen, weil sie dachten, ich würde durch ihn belästigt. Sie liessen zwar sofort von ihm ab als ich erklärte, dass wir Freunde seien, und er mich durchaus nicht belästige, aber der Schock dieser Begegnung steckt Vicky noch heute in seinen Knochen. Er war entsprechend froh, als wir uns am 19. Januar auf den Weg nach dem kleinen, zwei Bahnstunden nördlich von Kolkata gelegenen Santiniketan machten.
Santiniketan oder "Stätte des Friedens" ist eine Schöpfung des indischen Dichters und Pädagogen Rabindranath Tagore. Er gründete dort 1901 eine kleine, ganz in der Natur gelegene und mit der Natur lebende Schule. 1921 ergänzte er dieses Projekt durch die Visva Bharati Universität, in der sich westliches und östliches Wissen treffen sollten. Heute ist Santiniketan ein kleines, im Vergleich zu dem, was ich in Indien bisher gesehen habe, äuserst angenehmes Universitätsstädtchen. Vom rebellischen, vorwärtsstrebenden Geist Tagores ist allerdings nichts mehr zu spüren. Die Uni leide vor allem seit ihrer Verstaatlichung zu Beginn der 1950er Jahre, so haben mir alle, die ich danach fragte, erklärt, an Übersättigung und Erstarrung. Die Schule Tagores, die nach wie vor besteht, sei gemessen am indischen Durchschnitt zwar nicht schlecht, doch fehle es auch dort an einer engagierten Auseinandersetzung mit dem, was Tagore damals gewollt habe. Man begründet den nach wie vor bestehenden Anspruch auf pädagogische Führerschaft damit, das der Unterricht, wie zu Tagores Zeiten, im Freien stattfindet. Das die Schule heute nicht mehr in einem einsamen Wald, sondern 50 Meter von der von Touristen und Einheimischen belebten Strasse entfernt liegt, schmälert den Stolz auf die alte Tradition nicht. "Tagore wird hier nach allen Regeln der Kunst ausgeschlachtet", sagte mir Martin Kämpchen, ein deutscher Forscher, der seit 25 Jahren in Santiniketan lebt und arbeitet.
Meine zugegebenermassen nicht sehr enthusiastischen Versuche, einer oder zwei Unterrichtsstunden in der Tagoreschule beiwohnen zu können verliefen im Sand. Schliesslich versuchten Vicky und ich es am letzten Tag unseres dortigen Aufenthaltes auf eigene Faust, doch wir scheiterten am Niet des Aufsehers, der vor dem Eingang zum Schulgelände stand und nur eisern wiederholte: "For students only!" Auch eine in der Nähe stehende Lehrerin zeigte nicht das geringste Interesse. So begnügten wir uns am Ende damit, die Tagore-Pädagogigk durch den Zaun zu betrachten, der das Schulgelände von der Strasse trennt. Ein ähnliches Fiasko war das Interview mit einem emeritierten Professor der Visva Bharati Universität, der mir eine Stunde lang von der herrlichen Pädagogik Tagores vorschwärmte, ohne sich dabei je durch meine Fragen aus dem Konzept bringen zu lassen. Ich brauchte eine ruhige Stunde an der zu diesem Zeitpunkt noch milden Sonne Indiens und zwei starke Kaffees, um mich von diesem Schock zu erholen.
Was Santiniketan angenehm machte, das waren die Gespräche mit Martin Kämpchen und die Abende vor dem Sonar Bangla, unserem Guest House, wo ich bald zu einer Art Versuchsobjekt von allerlei Hobbysprachlehrern wurde, die sich zwischen halb acht und halb zehn neben mich auf die Treppe setzten, und mir ein paar Brocken Bengali beizubringen versuchten. Es waren eigenartig schöne Abende. Hie und da tauchte auch jemand auf, dessen Englischkenntnisse zu einem kleinen Gespräch ausreichten. Dann plauderte ich fünf oder zehn Minuten - z.B. über die Zwistigkeiten innerhalb der Visva Bharati Universität -, bis der betreffende Mensch wieder im Strom der in unserm Strässchen auf- und abpromeniernden Männer verschwand. Inhaltlich interessant waren ein Besuch in einem von Martin Kämpchen betreuten Dorfentwicklungsprojekt und ein fünftägiger Abstecher nach Sikkim.
Dieses Sikkim findet ihr in euren Atlanten - so zumindest meine Vorstellung - rechts neben Nepal und unterhalb Chinas. Es war bis 1975 ein selbstständiges Königreich, dann wurde es von der bisherigen Schutzmacht Indien besetzt. Man fürchtete offenbar einen Einmarsch Chinas und wollte sich den Brocken nicht vor der Nase wegschnappen lassen, so jedenfalls eine Erklärung der damaligen Ereignise. Heute ist Sikkim ein indischer Bundesstaat mit einigen besonderen Rechten und Privilegien. Sikkim ist gebirgig und kalt. Sein Wahrzeichen ist der Kanchanjunga, der drittgrösste Berg der Erde, den man bei gutem Wetter fast von jedem Punkt des Landes aus sieht.
Die Idee nach Sikkim zu fahren stammte von Vicky. Er kenne dort einen Schulleiter, der während der letzten fünf Jahre mit einigen seiner Schüler mehrmals in Bodh Gaya gewesen, um an einem der grossen religiösen Feste teilzunehmen. Dabei hätten sie sich kennen gelernt, und Schoscho habe ihn schon einige Male herzlich zu sich eingeladen. Im übrigen scheine seine Schule sehr interessant. Nun gut. Why not. Nach einer achtstündigen Zugfahrt, einer Übernachtung in New Jalpaiguri und 8 weiteren Stunden in einem Bus und einem Jeep, lud unser Fahrer uns am Abend des 26. Januar, dem Tag der indischen Unabhängigkeit, schliesslich ab: "Here it is." Als der Jeep weg war, merkte ich erstmals, dass es auch in Indien richtig still sein kann!
Wir waren auf rund 2000 Meter, und um uns schien nichts zu sein als Fels und Wald. Der Weg, auf den der Fahrer des Jeeps gewiesn hatte, führte zu einigen Häusern, die beim Näherkommen allerdings einen verdächtig ruhigen Eindruck machten. Schliesslich kamen uns zwei Jugendliche entgegen, die Vicky zu meiner grossen Überraschung wirklich kannten und ihn sehr herzlich begrüssten, bevor sie uns offenbarten, dass die Schule von Anfang Dezember bis Ende Februar wegen der Kälte geschlossen und auch Schoscho nicht hier sei. Nach anfänglicher Ratlosigkeit beschlossen die Beiden, uns mit sich in das fünf Minuten entfernt gelegene Haus des Schulgründers zu bringen. Dieser habe sicher Platz für uns. Tatsächlich entwickelte sich dann alles sehr angenehm. Wir verbrachten zwei Nächte im Haus von Captain Yapo Yongda, dem Gründer der DPC-Academy, einer inzwischen 25jährigen privaten Internatsschule für rund 220 Kinder aus ganz Sikkim.
In mehreren Gesprächen erklärte mir der "Captain", wie er in seiner Schule westliche Bildungsansprüche mit der klösterlichen Bildung des tibetischen Buddhismus zu kombinieren versucht. Was er sagte klang interessant; noch überzeugender waren jedoch die Begegnungen mit einigen grossen und kleinen Schülern der offenbar doch nicht ganz ausgestorbenen DCP-Academy, die ich am folgenden Tag besuchte. Die sämtlich aus armen Verhältnisen stammenden Kinder und Jugendlichen machten auf mich einen ungewöhnlich wachen und kritischen Eindruck. Auch die Fünf- oder Sechsjährigen sprechen bereits englisch, und mit zwei älteren Schülern, die ich am Nachmittag treffe, entspinnt sich eine sehr angeregte Diskussion über das Thema Liebe, wobei die beiden in dem, was sie sagen, erstaunlich offen und modern klingen.
Die Räume der Schule sind äusserst einfach: Schlafsäle mit doppelstöckigen Holzbetten für je 40 bis 60 Jungen oder Mädchen, einfache Schulzimmer mit primitiven Holzbänken, eine Küche mit einem einfachen Holzherd aus Lehm und einem Gasbrenner. An vielen Orten wird noch gebaut und die Räume wirken ästethisch nicht ansprechend. Ansprechend ist dagegen die Ursprünglichkeit der Umgebung, was während der wärmeren Jahreszeiten, in denen man sich viel draussen aufhält, wohl mehr ins Gewicht fällt als die Ausgestaltung der Schulräume. Das Äussere der Schule, aber auch die quasi klösterliche Lebensweise der SchülerInnen mit ihrem von morgens fünf bis abends neun durchstrukturierten Tageslauf, erinnerte mich an das Leben in den ersten deutschen Landerziehungsheimen zu Beginn des 20. Jahrhunderts oder an die pädagogischen Ansprüche der Philanthropine des 18. und 19. Jahrhunderts. So wie diese es sein wollten und zu ihrer Zeit waren, ist auch die DCP-Academy eine Art Erziehungsstaat, in welchem die von den Eltern, den Medien und anderen Quellen kommenden Einflüsse auf die Zöglinge fast ganz ausgeschaltet sind, sodass diese in viel höherem Mass von ihrer Schule erzogen und geformt werden können, als dies in einer gewöhnlichen Tagesschule möglich ist. Die DPC-Academy ist schon allein deshalb kein Importartikel zur Rettung der westlichen Bildung, doch sie ist gerade wegen dieses umfassenden erzieherischen Anspruchs (und der wie mir scheint liberalen Art der Umsetzung) ein anregender Versuch.
Von der Kälte und plötzlicher Geldknappheit getrieben verliessen wir die DPC-Academy und den Captain mit einer buddhistischen Denkanmichschleife geschmückt bereits am Morgen des 28. Januar. Nach einem knapp 24stündigen "Boxenstop" in Gantok, der Hauptstadt Sikkims, wo wir uns u.a. mit Haarefärben vergnügten und ich meine Barbestände wieder auf Vordermann brachte, und nach 5 weiteren Stunden in einem Jeep am folgenden Morgen sowie einer ziemlich ungemütlichen nächtlichen Eisenbahnfahrt von New Jalpaiguri nach Bolpur waren wir am Sonntag, 30. Januar morgens früh wieder in Santiniketan, wo wir vom Besitzer des Bangla Sonar wie alte Freunde begrüsst und untergebracht wurden.
Unsere zweite Woche an diesem Ort verlief anfänglich ähnlich friedlich und gemütlich wie die erste. Dann brach eine Liebestragödie im besten indischen Kinostil aus. Zuerst lag Vicky im Bett und wollte nicht mehr leben. Nicht, weil er so unsterblich in Raya, ein 17-jähriges Mädchen, welches wir ein paar Tage zuvor kennen gelernt hatten, verliebt gewesen wäre - "no no, I like her, but I want western girl!" -, sondern weil er sie nicht zurückweisn wollte. "It will give her pain. How can I do? I want to die". Überhaupt sei das Leben schrecklich. Er wolle nicht arm sein, und dass ich nicht sehen könne tue ihm auch so weh.
Ich war ebenso ratlos wie Raya, die an dem Nachmittag zu Besuch gekommen war, mir Vicky nach einer Stunde aber überliess, weil er nicht richtig rede. "Talk to him, uncle. He is not right in the head." Der Umstand, das Vicky uns beiden am Abend zuvor erzählt hatte, er habe sich in den letzten drei Jahren zweimal das Leben nehmen wollen - das zweite Mal wollte er sich verbrennen! -, wirkte auf uns natürlich auch nicht gerade beruhigend. Schliesslich schlief er eine Runde, und als er aufwachte war die Krise zunächst vorüber.
Am folgenden Vormittag musste ich dann plötzlich ganz dringend ans Telefon. Raya war am Apparat. Ich müsse Vicky unbedingt erklären, dass sie als Tochter eines traditionellen indischen Hauses ihn heute nicht schon wieder sehen könne. "If my parents find out, it will be very bad". Ich fragte sie, ob sie dies Vicky denn nicht erklärt habe. Er als Inder kenne diese Sitten doch und würde sie verstehn. "I tried to tell him, but he doesn't listen. He said, he would kill himself, if I didn't come." Gut. Ich versprach Raya, die mir eigentlich einen ganz vernünftigen Eindruck machte, mit Vicky zu reden und sagte ihr, dass sie sich von derlei Drohungen nicht unter Druck setzen lassen solle. "Yes, uncle, but you know, he has done it before, so now I am afraid" ... Irgendwie fand Raya dann doch eine Ausrede, um Vicky zu sehen. Sie verbrachten einen anscheinend ganz vergnüglichen Nachmittag, und am folgenden Mittag begleitete sie uns zum Zug, der uns zurück nach Kolkata brachte.
Während der folgenden Nächte gab es noch einige hektische Telefongespräche, wobei das Handy, das Vicky sich mit dem bei mir verdienten Geld angeschafft hatte, erstmals zum Einsatz kam. Vicky erzählte mir während diesr "Tage danach" im übrigen, dass Raya sich ihren Unterarm zerschnitten habe, als wir in Sikkim waren. "She afraid that I don't come back, so she wanted to kill herself." Als ich ihn fragte, ob das sich Umbringen wollen in Indien zu jeder rechten Liebe gehöre, sagte er. "Yes, they often do" ... Jetzt, wo der Sturm vorüber scheint, kann ich ja darüber lachen, aber als das mit dem sich ins Bett legen und Sterben wollen losging - einmal er, dann wieder sie -, da war ich nahe dabei bei irgendwen von Euch anzurufen, um mir ein paar Tips im Umgang mit Teenagern zu holen.
Wir waren u.a. deshalb so lange in Santiniketan geblieben, weil Shona, der Koordinator des dortigen Dorfentwicklungsprojektes, mich unbedingt mit seinem jüngsten Bruder bekanntmachen wollte. Gopal ist blind und geht zur Zeit in Kolkata in die 12. Klasse. Danach wollte Shona mir auch noch die von der Ramakrishna Mission in Nanindrapur betriebene Blindenschule zeigen, die Gopal früher besucht hatte. Sie liegt rund 20 km ausserhalb Kolkatas und hat diverse Abteilungen: eine Blindenschriftbibliothek, eine Hörbücherei, ein Computerlab, eine landwirtschaftliche Abteilung, ein Ausbildungszentrum für einfache Metallbearbeitung (light industry), eine Abteilung für Berufsmusiker, einen in Kooperation mit einer lokalen Universität betriebenen Ausbildungsgang für BlindenlehrerInnen und - als Kern - die eigentliche, 1957 gegründete 10klassige Schule mit dazugehörigem Internat.
Da gutes Zeitmanagement nicht gerade zu den Stärken des durchschnittlichen Inders gehört, war lange nicht klar, ob und wann Shona für den geplanten Ausflug Zeit haben würde. Doch schliesslich fand sich die Zeit. Wir trafen Shona am Dienstag Mittag bei seinem Bruder, verbrachten zwei Stunden in angeregtem Gespräch mit diesem und einer ganzen Reihe seiner (sehenden) Klassenkameraden. Danach fuhren wir nach Nanindrapur, wo wir fürstlich empfangen und höchst nobel untergebracht wurden. Am folgenden Tag besichtigte ich die ganze Einrichtung und sprach mit mehreren Lehrern sowie mit dem Schulleiter und dem Leiter der gesamten Mission, die noch eine ganze Reihe weiterer Projekte umfasst, die nichts mit Blindheit oder Behinderung zu tun haben.
Alles in allem war es ein lohnender Besuch, wobei mir die Besichtigung der landwirtschaftlichen Abteilung den grössten Spass gemacht hat. Ich wurde dort von einem begeisterten Instruktor und einer Reihe seiner blinden Schüler - junge Männer zwischen 17 und 25 - in Empfang genommen und unter Verwendung von vielen Händen und Füssen in alle Geheimnise des indischen Landbaues eingeführt, wobei meine enthusiastischen Betreuer mich oft in alle Richtungen gleichzeitig zerrten, um mir ihren Hühnerstall, ihre Pilzzucht, ihren Gemüsegarten, die Kuh, die Schafe oder die Ziegen (süsse kleine Viecher!) zu zeigen. Ich lernte, wie sie sich in ihrem Garten orientierten, wie sie pflanzten und Unkraut jäteten etc. etc. Zur Zeit sei diese Abteilung, so erklärte man mir später, die erfolgreichste der ganzen Schule, denn die hier während zwei Jahren ausgebildeten Menschen seien nach der Rückkehr in ihre Familie nicht nur imstande, gewisse landwirtschaftliche Arbeiten selbst zu übernehmen; aufgrund ihrer theoretischen Schulung in Tierpflege etc. seien sie oft auch die am besten ausgebildeten Bauern am Ort, sodass das ganze Dorf von ihnen profitiere. Wie gesagt: die übrige Besichtigung war ebenfalls interessant, aber meinem Herzen hat's bei den Ziegen und den Kohlköpfen doch am besten gefallen! Vielleicht hätte ich mich auch bei den blinden Fussballern wohl gefühlt, doch standen diese nicht auf dem offiziellen Programm und Vicky erzählte mir erst später eher zufällig, wie er über deren Treffsicherheit gestaunt habe. "How they do? I don't know! How can they do?" Ich weis es auch nicht, würde es aber gerne wissen.
Nach einer zweiten Nacht in unserem Luxusapartment verliessen wir Nanindrapur am Donnerstag früh, um den 09:25-Zug von Kolkata nach Gaya zu erwischen, denn nachdem Vicky im Laufe unserer genau vier Wochen dauernden Reise einiges von der grossen weiten Welt gesehen hatte, wollte er wieder heim. Wir hatten unterwegs mehrmals über seine berufliche Zukunft gesprochen und u.a. auch die Möglichkeiten abgeklärt, in Santiniketan sein 11. und 12. Schuljahr zu machen oder - als Alternative dazu - in Kolkata einen intensiven Englischkurs zu belegen, um etwas Ordnung in den kreativen, aber nicht unbedingt sehr funktionalen Wildwuchs seiner Sprache zu bringen. Schliesslich waren wir jedoch zum Schluss gekommen, dass die realistischste Möglichkeit für ihn vermutlich trotz aller Vorbehalte das College in dem rund 30 km von seinem Dorf entfernten Gaya sei, und da ich ihm bereits bei unserem Aufbruch versprochen hatte, seine Ausbildung zu finanzieren, wenn er mir einen konkreten, auch mich überzeugenden Plan vorlegen könne, fuhr ich mit, um diese Sache vor Ort zu Ende zu bringen. Dabei sollte ich - so Vickys Wunsch - nicht in einem Guest House in Bodh Gaya, sondern als sein Gast und als Gast seiner Familie in dem rund 1 km entfernten Bhagalpur - seinem Dorf - wohnen.
Damit ist meine Zeit um und ich muss wieder einmal Schluss machen, obschon wir noch immer nicht in der Gegenwart angekommen sind!
Seid alle ganz fest umarmt von eurem zur Zeit etwas abgewirtschafteten, aber nach wie vor intakten
© 2005 by Martin Näf, Basel
Erstellt am Mo, 28.08.06, 09:01:19 Uhr.
URL: http://anderssehen.at/alltag/reise/indien/6.shtml