Über das lange Wochenende nach dem 01.11., dem Feiertag, besuchte ich meine Bekannten in Nürnberg, wie ich das öfter im Jahr tue, und am Freitag, während die beiden im Dienst waren, ging ich einkaufen, zuerst in die Stadt und dann per U-Bahn raus nach Langwasser ins Einkaufszentrum, wo ich schon seit meiner Schulzeit sehr oft hingehe. Ich tastete mich also mit meinem vierteiligen englischen Langstock den vertrauten Weg von der U-Bahnhaltestelle die Rolltreppe rauf und blieb, wie meistens, zögernd am Eingang des Gebäudes stehen, denn die Eingangstüren bestehen aus großen und sehr schweren Drehtüren, die selbst einen Mann von zwei Zentnern wie mich an die Wand pressen können, wenn man sich diesen Dingern von der falschen Seite nähert.
Und wie ich noch dastand, um die Tür zu orten, kam plötzlich jemand von der anderen Seite angerannt, den Schritten nach eine Frau, und trampelte mir volle Kanne auf den Stock. Ich sage trampelte, denn das muss sie getan haben, da der Mittelteil des Vierteilers so krumm war, dass eine Banane hätte neidisch werden können. Ich rief noch "Stehenbleiben!", aber das hätte ich mir sparen können, sie war schon weg. Ich dachte mir, dass man es da mal wieder sieht: Leute mit zwei gesunden Augen im Kopf benehmen sich sehr oft viel blinder als die Blinden selber.
Da stand ich nun mit gekrümmtem Stock neben der Eingangstür und versuchte, ihn gerade zu biegen, aber da ich über keine Stahlfinger verfüge, klappte das natürlich nicht. Ich hatte eine Wut auf alles, denn ohne Stock komme ich außerhalb des Hauses keine fünf Meter weit, und schon gar nicht in einer Stadt wie Nürnberg. Meine beiden Reservestöcke lagen über 120 km weit weg zu Hause im Schrank, aber wer schleppt schon zwei Stöcke mit sich rum? Nach etwa 10 Minuten sprach mich eine Frau an, ob sie und ihr Mann mir helfen könnten. Sie hätten die Frau gesehen, die "das gemacht hat, aber die ist schon weg". Ich nickte dankbar, und der gute Mann, der mir seinen Namen nicht nannte, konnte den Stock tatsächlich wieder so hinbiegen, dass man damit weitergehen konnte. Ganz gerade ist er heute noch nicht, und das wird er auch nie wieder, aber wieder funktionstüchtig. Ich bedankte mich und betrat den Einkaufstempel, um meine Besorgungen zu machen.
Später, als ich wieder auf dem Weg in die Stadt zur Wohnung meiner Bekannten war, dachte ich noch: "Ist doch gut, dass es ein englischer Stock war, und schade, dass es die nicht mehr gibt. Ein deutscher Stock, noch dazu einer zum Zusammenschieben, der hätte das nicht ausgehalten, der wäre abgebrochen. Hurra für England also, was Blindenstöcke angeht." Ich schwöre nicht ohne Grund seit meiner ersten Mobilitätstrainingsstunde auf den englischen Stock, und ich weiß warum. Vielleicht läuft ja die Produktion doch wieder an. Ich kann es nur hoffen.
Uwe Simon
Aus: "Die Gegenwart", Zeitschrift des DBSV, Nr. 2, Februar 2002.
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Erstellt am Di, 19.12.02, 09:07:46 Uhr.
URL: http://anderssehen.at/alltag/unterw/engstock.shtml