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Vom Brot zur Schokolade
- der "neue" Jakominiplatz

Mich beschlich ein ungutes Gefühl, wann immer ich an ihn dachte. Schon der alte Platz hatte mir, obwohl nicht so komplex, Schwierigkeiten bereitet, und ich hatte ihn, wenn irgend möglich, gemieden. Wenn es erforderlich war, ihn zu betreten, dann war es häufig dem Zufall überlassen, ob ich dort ankam, wo ich wollte. Schließlich begann die Umbauphase und ich mied ihn überhaupt. Neugierig war ich aber doch, ließ ihn mir immer wieder von Sehenden beschreiben, war aber nicht sicher, ob ich ihn irgendwann wieder würde benützen können.

Als sich die Umgestaltungsarbeiten ihrem Ende näherten, beschlossen wir - die Stadtplanleserunde - diesen Platz mit den für uns angebrachten Adaptierungen zu erforschen. Als ich das erste Mal vor dem tastbaren Plan saß, brauchte es, obwohl des Planlesens inzwischen kundig, eine Weile, bis ich mich halbwegs zurechtfand und die neuen Symbole kennenlernte. Wir erfuhren von den vielen Veränderungen, die sich im Vergleich zum alten Platz ergeben hatten. Der Begriff "Überquerungsfelder" tauchte zum ersten Mal auf, und uns wurde erklärt, dass es sich dabei um Rillensteine handelt, die genau an den Punkten verlegt sind, wo man am sichersten den Platz überqueren könnte. Wir besprachen, wie man mit Hilfe dieser Felder die verschiedenen Haltestellen erreichen kann, spielten die verschiedensten Möglichkeiten am Plan durch, aber es blieb, für mich zumindest, abstrakt. Wir fanden die bereits vom Hauptplatz bekannten Noppenfelder zur Kennzeichnung von Haltestellen, die neuen schmalen Bus- und Straßenbahninseln, die vielen Lichtmasten, Wartehäuschen und Kioske. Am Ende dieses Planleseabends rauchte mir der Kopf, und vor lauter neuen Informationen kannte ich mich überhaupt nicht mehr aus. Ich packte den Plan ein, um ihn zu Hause nochmals in Ruhe zu studieren. Da saß ich dann, und das Chaos lichtete sich ein wenig. Vor allem die Haltestellenbereiche musste ich mir immer wieder ansehen, bis ich sie mir einprägen konnte. Vergeblich suchte ich nach einer eigenen Haltestelle der Linien 3 und 6 stadteinwärts und stellte schließlich beim nächsten Treffen der Kartenleserunde fest, dass nicht der Plan fehlerhaft war, sondern die Straßenbahnen 1, 3, 6 und 7 stadteinwärts eine gemeinsame Haltestelle besitzen.

Dann kam der Moment, wo wir zum ersten Mal zum Jakominiplatz fuhren. Und es begann mit einer unangenehmen Überraschung.

Wir hatten den Plan ausführlich studiert und uns genau angesehen, wo wir aus der Straßenbahn aussteigen würden (beim GVB-Häuschen vor den Standln). Allerdings landeten wir dann nicht an der erwarteten Haltestelle, sondern beim "großen Dreieck". An der Akustik um uns herum war sofort erkennbar, dass wir auf einer breiten Insel standen. Weshalb hatte die Straßenbahn nicht die eigentliche Haltestelle angefahren? Solche Situationen sind, selbst, wenn man einen Ort gut kennt, unangenehm. Man spielt dann im Kopf alle erdenklichen Möglichkeiten durch, die eingetreten sein könnten und wo man sich befindet. Bei Straßenbahnen ist das noch verhältnismäßig einfach, da sie sich nur in Geleisen fortbewegen können. Busse aber könnten über eine ganz andere Straße gekommen sein als erwartet. Gott sei Dank hatten wir in diesem Fall eine sehende Begleitung, die uns beides erklärte. Die Straßenbahn sollte anschließend in die Remise fahren und hatte deshalb einen anderen Weg eingeschlagen. Wir zogen den Plan zu Rate und bald schon standen wir an der eigentlichen Haltestelle; so hatten wir das erste, unfreiwillige Abenteuer bestanden.

Nun konnte es richtig losgehen. Ich kannte den Platz nur vom Ertasten und war neugierig, was ich nun in der Praxis vorfinden würde. Die Übereinstimmung war faszinierend. Wir lernten Noppenplatten von Rillensteinen zu unterscheiden und stellten fest, dass man mit Hilfe der Überquerungsfelder tatsächlich sicher von einem Punkt zum anderen gelangen kann. Bei den ersten Begehungen war die akustische Ampelanlage noch nicht angebracht. Als sie schließlich installiert wurde, hatte manch einer sein Aha-Erlebnis. Die mit akustischen Ampeln versehenen Übergänge von der Bäckerei Auer über die Inseln bis hinüber zu Nowi (Süßwaren) sind wir mehrmals begangen. Anfangs waren die abgesenkten Gehsteigkanten ungewohnt, und ich blieb manchmal auf dem Gleiskörper oder erst mitten auf der nächsten Insel stehen, ohne die Kante registriert zu haben. Die vielen Lichtmaste bereiten keinerlei Probleme, da man sich zum Auffinden der Orientierungshilfen nach den Gehsteigkanten richtet.

Immer wieder saß ich zu Hause vor dem Plan und "ging" erdachte Wege, um mir den Platz mit all seinen Besonderheiten einzuprägen. Wir haben mittlerweile mehrere Begehungen gemacht und versuchen, unsere Erfahrungen dann an andere Blinde weiterzugeben. Jeder prägt sich die für ihn wichtigen Wege ein und sucht sich aus den vorhandenen die für ihn leichteste Möglichkeit. Ohne die Überquerungsfelder und Noppenplatten wäre der Platz allerdings nicht zu bewältigen. Auch das Modell des Jakominiplatzes, das wir freundlicherweise nach den Umbauarbeiten übernehmen durften, ist für viele eine Hilfe.

Bei unseren häufigen Jakominiplatzbegehungen hatten wir viele Erlebnisse. Viele freundliche, neugierige Passanten beobachteten uns, manch einer sprach uns an und brachte Verbesserungsvorschläge oder beschwerte sich über den Platz. Betrunkene redeten auf uns ein und allzu Übereifrige zerrten uns über die Straße, ob wir wollten oder nicht. Das unerfreulichste Erlebnis aber hatten wir mit einem reversierenden Autofahrer, zu dem weder die STVO noch der Zweck seines Rückspiegels durchgedrungen zu sein schien und der uns trotz Grünphase niedergefahren hätte, wären wir nicht zur Seite gesprungen.

Danke all jenen, die sich um die Adaptierungen dieses Platzes kümmerten, die uns zum tastbaren Plan verhalfen und uns den Platz mit viel Geduld und Einfühlungsvermögen lehrten.

Petra Raissakis - für die Kartenleserunde

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© 1996 by Petra Raissakis, Graz
Erstellt am Mo, 16.10.00, 08:01:19 Uhr.
URL: http://anderssehen.at/alltag/unterw/schoko.shtml

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