Nein, bitte nicht! Hoffentlich bleibt diese Schlange da, wo sie ist und kommt nicht in meine Nähe. - Ich sitze unter der Gartenliege, welche auf dem verwilderten Grundstück unseres neuen Heimes steht, gekauert und will unsichtbar sein. "Aber Jamie, das ist doch nur eine Blindschleiche, die beißt nicht." versucht Simone mich zu beruhigen. Sie macht gerade (auf der Gartenliege) Mittagspause. Kann sie mir das garantieren? Jedenfalls schlängelt sich das Vieh genauso durch's Gras wie jenes, das mich letzten Sommer am Badeteich in die Nase biss. Birgit erklärte damals, dieses Tier hieße Ringelnatter. Eine solche kann einem hier bei uns auch noch begegnen, wenn man Pech hat. Bei dem ganzen Getier, was so durch die Gegend kreucht und fleucht. Z.B. Boris, der Siebenschläfer. Er wurde von Paul beim Aufstemmen des Kellerbodens zwecks Verlegung von Abflussrohren unsanft aus seinem Tiefschlaf gerissen. Nun wohnt er in einem mit Höhlen ausgestatteten Käfig in Birgits Schlafzimmer. Dort schlief er wieder ein und ist (jedenfalls bislang) nicht mehr aufgewacht. Wenn Siebenschläfer wirklich sieben Monate lang schlafen, kann es sich nur noch um Wochen handeln, bis er wieder in die Freiheit kommt. Ich kann mir, im Gegensatz zu Marusa, gar nicht vorstellen, mehr als die Hälfte meines Lebens zu verschlafen. Während die Prinzessin sich morgens noch auf den Sofakissen räkelt, stupse ich Simone schon alle fünf Minuten an und frage, wann wir endlich in den Wald gehen. Marusa gähnt dazu nur müde und stöhnt: "Meine Güte, ich wünschte du würdest dir von Boris 'ne Scheibe abschneiden." Dann reckt und streckt sie sich und stolziert in die Küche, um zu sehen, ob in Macaks Schüssel noch Katzenfutterreste sind. Aber da hätte sie früher aufstehen müssen. Macak selbst oder ich sind meist schneller.
Aber zurück zu den nicht im Haushalt lebenden Tieren. Außer den Siebenschläfern, deren Anwesenheit vor der Renovierung auch im Dachstuhl unverkennbar war, gibt es die Wühlmäuse (es ist uns immer noch nicht gelungen welche zu fangen und auch der Bagger hatte irgendwie wenig Erfolg), die Mäuse in der Garage, Blindschleichen und Äskulapnattern in den Ritzen und Nischen der alten Mauern sowie Rotfedern und Bachflohkrebse im Bach. In den Baumwipfeln beginnen die ersten Vögel mit dem Brüten. Auch die haben es momentan nicht so leicht, weil Gottfried mit seiner Kettensäge ordentlich am Wirken ist. Vor allem entlang der Grenze, wo der neue Zaun hin soll, muß er ausholzen. Er ist Aktivist der Umweltschutzgruppe, aber wenn's um's Bäume absägen geht, ist er in seinem Element. Gottfried ist unter den Menschen einer der besten Freunde von Marusa und mir. Wenn wir ihn treffen springen wir ihm als erstes an den Hals und küssen ihn ins Gesicht. Er freut sich immer sehr darüber (obwohl ich so ein Dreckfink bin), im Gegensatz zu Birgit und Simone, die ihm erklären, er solle "Aus!" sagen und sich umdrehen. Erst wenn wir nicht mehr springen, soll er uns streicheln. Er ruft dann "Aus-Aus-Aus-Aus-Aus-Aus" in einem freudig auffordernden Ton, der uns dazu animiert, beschriebenes Begrüßungsritual noch weitere zehn Minuten auszudehnen. Dieses geht nicht ohne einen gewissen Trubel ab, und als wir ihn neulich in unserer Lieblingspizzeria trafen, wurden wir fast des Lokals verwiesen. In letzter Zeit streichelt Gottfried mich immer öfter guckt mich ganz traurig an und fragt "Wann muß er denn zurück in die Blindenführhundschule?" Auch macht er Simone dann Vorschläge wie: "Du musst ihn verstecken und sagen, er ist weggelaufen!" Ich glaube nicht, dass Simone dieses ernsthaft in Erwägung zieht. Wenn ich zur Zeit mal (ausnahmsweise) unartig bin höre ich nämlich immer öfter den Spruch: "Warte nur, bald wird dir dein Herrchen die Flötentöne schon beibringen!" Daß die Ausbildung zum Blindenführhund auch das Erlernen von Musikinstrumenten beinhaltet, ist interessant. Ich bin schon gespannt, wie das geht! Leider werde ich gar keine Zeit haben euch davon zu berichten. Die Schule soll ja so anstrengend sein, dass man abends sofort in einen Tiefschlaf fällt und keinen einzigen Satz mehr formulieren kann. Deshalb verabschiede ich mich an dieser Stelle von euch und hoffe, ihr hattet genauso viel Spaß beim Lesen, wie ich beim Schreiben.
Euer Jamie
Ein Jahr ist so lang - und doch zu kurz. Das Tagebuch wird zugeklappt. Jamies Kindheit ist vorbei. Vorbei auch die Zeiten, da mein Wecker Urlaub hat, weil eine feuchte Hundezunge jeden Morgen pünktlich über mein Gesicht schleckt. Vorbei das Einsammeln des in der Küche verstreuten Müllkübelinhalts. Vorbei die täglichen Spaziergänge durch Wald und Flur in Zwiesprache mit Hund und Natur. Vorbei...
Es fällt mir schwerer als mir lieb ist. - Aber Jamie wird den schönsten Beruf erlernen, den man sich für einen Hund vorstellen kann.
Möge mein kleiner Sonnenschein immer einen hellen Lichtstrahl auf den dunklen Weg seines Menschen werfen. Möge er ihm die Kraft und Wärme geben, die ihn nie verzweifeln lassen.
Wenn Jamie im Gegenzug die Liebe erhält, die er braucht und Verständnis dafür, dass zu einer erfolgreichen Hund-Mensch-Partnerschaft immer zwei gehören, wäre ich unendlich dankbar.
Simone
© 2004 by Simone
Erstellt am Di, 27.05.04, 07:23:19 Uhr.
URL: http://anderssehen.at/hund/jamie10.shtml