Unsere Zeit ist schnelllebig, oberflächlich, brutal, die Jugend haltlos ... und es ließen sich noch eine Reihe weiterer negativer Merkmale finden, wenn man es darauf anlegte. Und wie gut war die "gute alte Zeit"? Ich lebe im 20. Jahrhundert - und das auch noch gern. Warum? Ich werde versuchen, zumindest eine Antwort auf diese Frage zu geben.
Schon als Neunjährige habe ich von meinem Vater den Spitznamen "Bücherwurm" erhalten, und wenige Jahre später habe ich diesem Beinamen alle Ehre gemacht. Meine Lektüre ist mir Zeitvertreib, Abenteuerersatz, Informationsquelle, Anregung meiner Phantasie, Anlaß zu Tagträumen und oft auch willkommene Ausrede gewesen, um mich vor der aufgetragenen Hausarbeit zu drücken. Und mein Vater hat meinen Leseeifer nach Kräften gefördert, wahrscheinlich aus Dankbarkeit dafür, daß sein blindes Kind bildungsfähig ist und sich seinen Lebensunterhalt wird selbst verdienen können.
Wie wenig selbstverständlich es für Blinde noch vor gar nicht allzu langer Zeit war, für sich selbst zu sorgen oder gar ein selbstbestimmtes Leben zu führen, ist hinlänglich bekannt.
Lesen - so behaupte ich - ist neben Nachahmung, Zuhören und Sammeln praktischer Erfahrungen wohl das wichtigste Hilfsmittel, wenn es um Bildung geht; gleichgültig, ob Aneignung von Wissen, Auswertung desselben oder Anwendung des Gelernten - das Geschriebene gibt uns die Möglichkeit, Vergessenes aufzufrischen und Neues zu ergründen. Aber gerade diese Quelle war blinden Menschen bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts versagt. Wer keinen guten Freund oder keine verständnisvollen Angehörigen hatte, war auf sein mehr oder weniger gutes Gedächtnis angewiesen. Kein Wunder also, wenn man Blinde sehr lange für bildungsunfähig hielt, denn wer einen wachen und regen Geist besitzt, muß nicht zwangsläufig auch ein gutes Gedächtnis haben.
Als Johann Wilhelm Klein in Österreich mit diesem Vorurteil aufzuräumen begann, war es für seine Schüler sicherlich wie ein Erwachen, als sie erhabene Buchstaben abtasten und so das Geschriebene lesen konnten. Zum Studium umfangreicher Schriften war freilich die Lesegeschwindigkeit zu gering, aber mit dem von Klein konstruierten Stacheltypenapparat war es möglich, sich Notizen zu machen und schriftlich mit anderen Blinden, aber auch mit Sehenden, zu kommunizieren.
Die wohl revolutionärste Erfindung zu Beginn des vorigen Jahrhunderts war die von dem blinden Franzosen Louis Braille geschaffene Sechs-Punkte-Schrift. Hatten die wohlmeinenden Pädagogen vorerst Angst, diese Schrift könne Blinde wiederum isolieren, so mußten sie bald erkennen, daß mit diesem Schriftsystem eine wesentlich höhere Lesegeschwindigkeit und damit eine raschere Wissensaneignung erzielt werden konnte. Es dauerte daher auch nicht lange, bis auch die erforgänzenden Zeichen für Noten und Kurzschrift hinzugefügt wurden. In unserem Jahrhundert kam das Punktschrift-System mit den Spezialschriften für Stenografie, Mathematik, Physik, Chemie und Schach hinzu.
Bereits im Jahre 1893 wurde die Leihbücherei am Bundes-Blindenerziehungsinstitut gegründet, nachdem an derselben Einrichtung vier Jahre zuvor die ersten Bücher in der Sechs-Punkte-Schrift in Druck gegangen waren. Zu Beginn dieses Jahrhunderts war bereits ein reger Leihverkehr im In- und Ausland zu verzeichnen, und noch heute hat die Bibliothek, deren Kunden inzwischen über 8100 Werke zur Verfügung stehen, Leser deutschsprachiger Völker vor allem aus den östlichen Ländern.
Nach dem Zweiten Weltkrieg hielt das Tonband und zu Beginn der Sechziger Jahre die Compactcassette Einzug in unsere Haushalte: das ideale Medium, um auch umfangreichere Texte mit verhältnismäßig geringem Zeitaufwand zugänglich zu machen; diesmal nicht mittels Schrift, sondern akustisch. In der Schweiz wurde die erste "Hörbücherei" im Jahr 1949, in Deutschland 1954 und in Österreich 1957 gegründet. Damit waren Bücher und Zeitschriften auch jenen zugänglich, die - aus welchen Gründen immer - die Blindenschrift nicht erlernen konnten oder wollten. Neben einer Augenkrankheit gibt es ja auch noch eine Reihe anderer Lesebehinderungen, wie zum Beispiel Lähmungserscheinungen, die ein Umblättern unmöglich machen.
In den Achtziger Jahren eroberte der Computer die Bürowelt, und schon am Ende dieses Jahrzehnts sanken die Preise für Computer derart, daß sie auch für Privatpersonen erschwinglich wurden. Wenn es anfangs auch so aussah, als würde diese neue Technologie Sehbehinderte wieder aus dem Arbeitsprozeß ausschließen, so zeigte es sich bald, daß auch diese Hürde überwunden werden konnte. Schon bald gab es eine Art "Zusatzbildschirm" mit Punkten für die Blindenschrift, synthetische Sprachausgaben und vergrößerte Bildschirmdarstellungen, die nicht nur die Arbeitsplätze Sehbehinderter erhalten, sondern darüber hinaus neue Einsatzmöglichkeiten erschließen halfen. So arbeiten heute sehbehinderte Menschen mit modernen Textverarbeitungsprogrammen, Datenbanken, Tabellenkalkulation - und natürlich lesen sie am Bildschirm Informationen aller Art.
In der Werbebranche werden Scanner schon lange zum Erfassen von Bildmaterial am Computer eingesetzt, und Mitte der Achtziger Jahre war man auch in der Lage, eingescannte Texte zu übersetzen und als Buchstaben zu interpretieren. Ich erinnere mich noch gut an mein fassungsloses Staunen, als ich zum erstenmal ein Buch auf die Glasplatte legen und wenige Minuten später den Text über Sprachausgabe hören konnte. Heute ist das freilich Alltag und Routine, wenn auch diese großartige Informationsquelle für mich noch nichts an Reiz verloren hat. In der Buchhandlung einen Bestseller oder ein noch druckfrisches Sachbuch zu erwerben, es zuhause auf den Scanner zu legen, vom Computer in mein Notizgerät zu übertragen und in der Straßenbahn mittels synthetischer Sprache zu "lesen", ist und bleibt faszinierend.
Und schon drängt sich ein neues Medium in den Vordergrund: das Internet. Die Informationsflut ist geradezu gigantisch, und zur Frage, wie man sich die Information zugänglich macht, kommt die Herausforderung hinzu, aus dem riesigen Angebot die für einen wichtigen Informationen herauszufiltern.
Ich bin ein Kind dieses Jahrhunderts - und ich bin es gern. Einer der Gründe ist die Vielfalt an Möglichkeiten, mir schriftliche Informationen zugänglich zu machen. Man kann nicht alle Abenteuer selbst erleben und nicht alle Erfahrungen selber machen. Und an einem naßkalten Herbstabend den Reiseführer für den bevorstehenden Urlaub zu lesen oder sich mit dem "neuesten Schrei" auf die Couch zurückzuziehen, das Fernsehprogramm zu studieren oder eine Tageszeitung zu lesen, ist auch für sehbebehinderte Menschen längst keine Illusion und Utopie mehr, sondern ein greifbares Ergebnis des Informationszeitalters.
© by Eva Papst
Erstellt am Mo, 10.09.01, 08:01:19 Uhr.
URL: http://anderssehen.at/lesen/buch.shtml