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Blind in der Arena

"Bayern hat den Ball, Ballack spielt das Leder nach rechts außen, da läuft "Brazzo" auf dem rechten Flügel bis zur Grundlinie, Flanke nach innen, Kopfball - Tor!!!".

Jubel über Jubel - 60.000 im Olympiastadion springen hoch, schwenken ihre Fahnen, klatschen, kreischen und wie bei jedem Bayern-Tor ertönt die über die Stadion-Lautsprecher eingespielte Melodie "FCB, immer wieder, FC Bayern, Du sollst ewig Deutscher Meister sein". Dann setzt der Stadion-Sprecher und Radiomoderator Stefan Lehmann laut ein: "Tor für den FC Bayern München! Auf Flanke von "Brazzo" Hassan Salihamidcic Kopfballtor durch unsere Nummer 10 Roy (das ganze Stadion): "Makaay" Rooy (das ganze Stadion): "Makaay!", Roooy (und nochmals alle): "Makaay!!".

Lehmann setzt den "wechselnden Sprechgesang" fort: Neuer Spielstand: FC Bayern (alle): "Eins", Real Madrid (alle): "Null!!". "Danke", so Lehmann, und die Fans antworten: "Bitte!"

Dann schallt es von der Südkurve, wo die hartgesottenen und eingefleischten Fans des FC Bayern stehen: "Scha-lala, Schalalala, Schalala, schalala, schalalala, Schalalala, Schalala, Schalalalala München!"

"Host des gsehn?, ein blitzsaubrer Angriff!" Die allermeisten haben es gesehen, zwar teilweise nur mit Fernglas, aber immerhin.

Ich konnte es nicht mit eigenen Augen wahrnehmen. Ich bekam die wesentlichen Infos von meinem persönlichen Reporter und habe zudem die Geräuschkulisse beobachtet, wie sie immer lauter wurde, die Trompeten und Tröten durchs Stadion schallten und im 60.000-kehlenstarken Torschrei endete. Ich juble wie die anderen Bayern-Fans, schwenke meinen rot-weißen Schal und singe, klatsche und tanze mit.

Manchmal werde ich gefragt: "Was fasziniert Dich als blinder Mensch am Fußball. Du siehst es doch nicht!" Ich will versuchen, hierauf eine persönliche Antwort zu geben.

Seit frühester Kindheit interessiere ich (Jahrgang 1960) mich für den Fußballsport. Schon mit knapp Sieben saß ich zusammen mit meinem Bruder vor dem Röhrenradio und fieberte bei den wöchentlichen Fußball-Reportagen mit. Mein erstes Live-Spiel erlebte ich mit acht, damals konnte ich noch etwas sehen und verfolgte das Spielgeschehen mit einem Fernglas. Seit rund 25 Jahren bin ich völlig blind. Ganz allein gehe ich nicht ins Stadion. Das wäre mir zu stressig. Wie finde ich meinen Platz? Wer berichtet mir etwas zum Spielgeschehen? Wer begleitet mich zur Toilette? Früher ging ich mit meinem Vater oder meinem Bruder, heutzutage sind es meine Jungs, die beide seit frühester Kindheit bekennende Bayern-Fans sind. Max, der ältere von beiden, ging mit mir zum ersten Mal - daran kann ich mich noch lebhaft erinnern - allein zum Spiel Bayern gegen Hertha BSC am 4. Mai 1999. Wir entschlossen uns spontan, zu diesem Sonntagsspiel zu gehen; einige Restkarten gab es, wie im Radio zu hören war, noch. Wir waren gut zwei Stunden vor Spielbeginn da, hatten Glück und bekamen Karten und Max fand alles, auch unsere Plätze. Er war absolut begeistert, das Stadion war ausverkauft, und schilderte mir alles, was er so wahrnahm. Max schwenkte die zuvor gekaufte Fahne.

Meiner Frau gaben wir zwischendurch per Handy regelmäßig Bescheid, dass alles "klar Schiff" ist. Sonst hätte sie unserer Unternehmung sicher nicht zugestimmt.

Inzwischen sind die Stadionbesuche für Max und zwischenzeitlich auch für Constantin (der jüngere Bruder) Routine geworden. Für mich ist es ideal, wenn Champions-League-Spiele stattfinden. Ich habe dann mein Mini-Radio dabei und mit dem Knopf im Ohr höre ich die "Vollreportage" in Bayern 5. Die Profi-Reporter Günter Koch und Edgar Endres liefern natürlich noch viel mehr Infos als das Begleiter können.

Höhepunkte waren Spiele gegen Real Madrid und die Lokalderbys. Hier ist die Atmosphäre besonders prickelnd und ich fiebere ganz besonders mit. Und was habe ich davon? Ich mache mir Bilder vom Geschehen auf dem Platz und vom Drumherum; deshalb möchte ich auch Infos zum Spiel. Letztlich ist es aber vor allem das Gemeinschaftserlebnis und die Möglichkeit, sich ein Stück weit ausleben zu können, indem wir bei den Fan-Gesängen einstimmen und mit vollem Einsatz "unsere Bayern" anfeuern und zum Sieg schreien. Schön ist für mich auch, dass ich diese Erlebnisse mit meinen Söhnen gemeinsam haben kann. Damit wird aus einem persönlichen Spaß ein Familienerlebnis.

Vorfreude haben wir jetzt schon auf die neue Allianz-Arena, wo wir wahrscheinlich ein großes Stück näher am Spielgeschehen sein werden und gerade ich als Blinder noch mehr Atmosphäre schnuppern kann.

Ein Traum wäre es, wenn dort ein spezieller "Assistenzservice für blinde Fans" installiert wäre, der es mir auch bei normalen Punktspielen ermöglichen würde, eine Live-Reportage durch geschulte Reporter in den Ohrhörer gesprochen zu bekommen. Das bitte aber nicht mit der Pflicht, auf der Haupttribüne Platz nehmen zu müssen. Denn die Atmosphäre, d.h. mittendrin in der Bayern-Fankurve oder zumindest in Tuchfühlung, ist für mich das Wichtigste. Die Verantwortlichen der Münchner Fußball-Klubs kennen unsere Wünsche. Ich hoffe, sie werden alles daran setzen, für Barrierefreiheit in der neuen Arena zu sorgen. Denn Fußball ist zwar nicht absolut mein Leben, aber er gehört doch zu den schönsten Nebensachen der Welt. Die völlige Erblindung hat für mich an dieser Einschätzung nichts geändert.

Christian Seuß

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Aus: "Die Gegenwart", Zeitschrift des DBSV, Nr. 6, Juni 2004.
Weitere ausgewählte Artikel aus der "Gegenwart" finden Sie auf der Homepage des Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverbandes.

Erstellt am Do, 08.07.04, 08:46:09 Uhr.
URL: http://anderssehen.at/alltag/berichte/arena.shtml

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