Der Mensch gewinnt den weitaus größten Teil seiner Informationen über die Umwelt, über den Sehsinn. Die äußere Erscheinung spielt bei der Beurteilung von Menschen und Dingen die wichtigste Rolle. In der kommerziellen Werbung bei Dingen, aber auch in der "Brautwerbung" bei Menschen, wird ganz gezielt an der äußeren Erscheinung gearbeitet, um einen möglichst guten Eindruck auf den Betrachter zu machen. Dinge werden gereinigt, poliert, geschliffen, verpackt, bemalt, um möglichst frisch und neu zu wirken.
Das gleiche gilt auch für Menschen, die sich für die "Brautwerbung" waschen, kleiden, schminken, rasieren, ihre Körper trainieren, um jung und attraktiv zu erscheinen und um damit die eigenen Chancen auf dem Heiratsmarkt und auf einen potentiellen Partner zu erhöhen. Dieses Verhalten ist nicht neu, es ist so alt wie die Menschheit selbst. Der Unterschied zu früher besteht nur darin, daß in unserer Mediengesellschaft mit Fernsehen, Video und Plakaten diese Tendenz ins Maßlose gesteigert wird. Wir leben heute in einer durch und durch optisch ausgerichteten Gesellschaft.
Auf die Frage nach dem Wunschpartner kommt immer wieder die gleiche Antwort: "Auf die inneren Werte kommt es an." Aber wie sind diese zum Zeitpunkt der Kontaktaufnahme zu entdecken, wenn sie innen verborgen sind?
Behinderte Menschen unterliegen bei der Partnerwahl den gleichen Mechanismen wie Nichtbehinderte; auch für sie gilt: Wer Eindruck auf andere Menschen machen und gut ankommen will, muß sich möglichst vorteilhaft präsentieren können. Dann sind die Chancen am größten, nach den äußeren auch mit den inneren Werten wie Charakter und Intelligenz für sich werben zu können. Es ist die äußere Erscheinung, die den Ausschlag gibt, ob es überhaupt zu einer Kontaktaufnahme kommt, auch wenn das keiner zugeben mag, weil man befürchtet, als oberflächlich zu gelten.
Dieser Mechanismus hat zur Folge, daß es zwei Arten von Behinderungen gibt. Solche, die für die anderen deutlich sichtbar, und jene, die nicht auf den ersten Blick zu erkennen sind. Dabei versteht es sich von selbst: Menschen mit deutlich sichtbarer Behinderung haben es wesentlich schwerer bei der Partnerwahl. So stellen Sehbehinderung und Querschnittslähmung nicht nur eine Beeinträchtigung von Körperfunktionen dar, sondern können auch die zwischenmenschlichen Kontakte, insbesondere im Intimbereich, wesentlich erschweren. Durch Rollstuhl, Blindenstock oder auffällige Verhaltensweisen stigmatisiert, passen sie nur schwer in das Bild vom jugendlichen Märchenprinzen, der uns aus Fernsehen, Videoclip und von Werbeplakaten entgegenlächelt.
Sexualität beginnt nicht erst im Bett und endet nicht mit dem vollzogenen Beischlaf. Bereits die zarten Rituale der Annäherung wie auch der Nachkontakt zählen dazu. Zwischenmenschliche Kommunikation beginnt lange bevor noch das erste Wort gesprochen ist. Der Sehsinn ermöglicht es, über eine größere Distanz hinweg andere zu betrachten und Augenkontakt aufzunehmen, um herauszufinden, ob die eigenen Blicke erwidert werden und ob es so zu einer ersten Übereinstimmung kommt.
Sehbehinderte Menschen sind hier eindeutig benachteiligt. Sie können den anderen nur schwer bis gar nicht eingehend betrachten, d.h. über die Konstitution des anderen erfahren sie erst durch Erzählungen Dritter oder indem sie den Körper des anderen betasten, was in unserer distanzierten Gesellschaft äußerst unüblich, ja geradezu verpönt ist und erst zu einem sehr fortgeschrittenen Zeitpunkt der Partnerwahl erfolgt. Der Augenkontakt ist für Sehbehinderte erst aus allernächster Nähe bis gar nicht gegeben. Auch hier muß der/die Sehbehinderte erst "ran an den Mann", um zu erkunden, was man voneinander zu halten hat.
Sehbehinderte meiden Orte, in denen sie sich nicht gefahrlos bewegen können. Discotheken, Lokale, Clubbings, aber auch viele Vereinslokale zählen dazu. Es ist zu laut, was eine verbale Kommunikation verhindert. Es ist zu dunkel, was vielen Sehbehinderten die Orientierung erschwert. Die Baulichkeiten sind unübersichtlich, die Toiletten nur schwer zu finden, überall muß man auf Stufen gefaßt sein. An Tischen, Stühlen und sonstigen Gegenständen kann man sich stoßen und verletzen. Oft benötigt man eine Begleitung, um überhaupt zum Ort des Geschehens zu gelangen.
Dazu kommt noch, daß viele Nichtbehinderte einen weiten Bogen um Sehbehinderte und Blinde machen, um ihnen möglichst viel Platz zu bieten, was zwar die Bewegungsfreiheit des Sehbehinderten erleichtert, die Kommunikation aber erschwert. Die Kennzeichnung mit Schleife und Stock signalisiert zwar die Sehbehinderung, wirft aber viele Sehbehinderte sogleich bei der Partnersuche aus dem Rennen, weil die meisten Nichtbehinderten bei der Partnerwahl ohnehin schon unsicher und überfordert sind und mit dem Stigma einer Sehbehinderung erst recht nichts anzufangen wissen.
Die Verhaltensforschung hat bestimmte Signale erkannt, auf die Menschen positiv oder negativ reagieren. Beispielsweise tragen Frauen Make-up, um ihre Hautfalten zu kaschieren, die als Zeichen des Alters gelten. Sie benutzen Wangenrouge oder Lippenstift, weil sich diese Hautpartien bei Erregung rot verfärben und anziehend auf Männer wirken. Männer hingegen rasieren ihre Gesichter und trainieren ihre Körper, vornehmlich Brust-, Schulter- und Oberarmmuskeln, um ihre Jugendlichkeit und Männlichkeit zu betonen. Das richtige Schminken will jedoch gelernt sein, besonders für sehbehinderte und blinde Frauen. Vielen ist es einfach zu schwierig und zu anstrengend und so verzichten sie darauf. Ohne Schminke schauen aber viele Frauen besonders am Abend bei grellem Licht fahl und blaß aus.
Bewegungsarmut ist bei behinderten Menschen weit verbreitet. Die Gefahr, sich bei körperlicher Betätigung zu verletzten, ist vielen zu groß. Ein Mann, der sich aber vor allem durch einen dicken Bauch und einen breiten Hintern auszeichnet, wirkt bei der Partnerwahl alles andere als attraktiv.
Gehen wir nun davon aus, daß der erste Kontakt geglückt ist. Nun beginnt die Phase der verbalen Kommunikation. Im allgemeinen eine besondere Stärke sehbehinderter und blinder Menschen. Daran gewöhnt, die Dinge beim Namen zu nennen, um diese zu bekommen, sind sie in vielen Fällen Sehenden verbal überlegen, wodurch sich diese überfordert fühlen. "Die oder der redet aber viel", denkt sich da so mancher. Nichtbehinderte wiederum üben sich oft im kommentarlosen Deuten und Zeigen oder in der Babysprache ("Da, da!"). Mit solchen Kommunikationsformen können wiederum Sehbehinderte nicht viel anfangen.
Am Ende eines Abends stellt sich für alle Beteiligten die Frage, ob man gleich zur Sache kommen, d.h. die Nacht miteinander verbringen soll. Besonders behinderte Frauen glauben, sich kein "Nein" erlauben zu dürfen, weil ansonsten die mühsam zustande gekommene Bekanntschaft sofort zu zerbrechen droht. Viele Behinderte glauben, und es wird ihnen auch von den nächsten Angehörigen so vermittelt, daß sie froh sein müßten, wenn sich ein Nichtbehinderter überhaupt für sie interessiert.
Vor diesem Hintergrund lassen sich vor allem behinderte Frauen vorschnell auf eine intime Beziehung ein. Scheitert dann eine solche Bekanntschaft, verstärken sich die Minderwertigkeitsgefühle, weil man glaubt, nur benutzt worden zu sein.
Der sexuelle Kontakt ist ein Abbild der gesamten Beziehung im Kleinen, d.h. es kommt zur Annäherungsphase mit Flirten, zum Vorkontakt mit Petting, zum Hauptkontakt mit dem eigentlichen Geschlechtsakt und zum Nachkontakt mit Streicheln und Halten. Grundsätzlich gehen Psychologen davon aus, daß alle Kontaktstufen durchlaufen werden sollten, um sowohl den sexuellen Kontakt als auch die Beziehung insgesamt als befriedigend zu empfinden.
Haben behinderter und nichtbehinderter Partner nun den Willen zu einer dauerhaften Partnerschaft, ist der Einfluß des Familien- und Freundeskreises nicht zu unterschätzen. Es mangelt sicher nicht an gutgemeinten Ratschlägen wie "Hast Du Dir nichts Besseres finden können?", "Überleg' Dir das noch einmal", "Weißt Du überhaupt, worauf Du Dich da einläßt", "Das Leben kann doch mit einem nichtbehinderten Partner viel einfacher sein". Da wir alle nicht auf einer einsamen Insel leben, sind wir auf die Rückmeldungen aus unserer Umwelt unser Verhalten betreffend angewiesen. So manche Partnerbeziehung ist aufgrund solcher Äußerungen bereits zerbrochen, noch bevor sie sich richtig festigen konnte.
Sind auch diese Widerstände überwunden, kommt es darauf an, den Alltag richtig zu organisieren. Wer übernimmt welche Aufgaben, ohne daß sich der Behinderte entmündigt vorkommt und der Nichtbehinderte ausgenutzt. Hier heißt es miteinander reden, um Spannungen bereits im Entstehen abzubauen; denn nichts kann eine Beziehung so nachhaltig ruinieren wie der Glaube, das Opfer in einer Beziehung zu sein, das immer mehr gibt als es bekommt. Dann wird Neid und Mißgunst gesät und Haß geerntet.
In jeder Paarbeziehung stellt sich sicher einmal die Frage nach dem Familiennachwuchs; und spätestens hier wartet sicherlich die größte Herausforderung und Belastung auf das Paar, weil die gesellschaftlichen Vorurteile nirgendwo größer sind als hier. Wieder ist die Umwelt mit guten Ratschlägen schnell bei der Hand: "Ihr habt doch mit Euch selbst genug zu tun, warum macht Ihr Euch noch mehr Schwierigkeiten als Ihr ohnedies bereits habt!"; "Was ist, wenn Euer Kind auch behindert ist?" Diese Fragen gehen ganz tief, weil die gesellschaftlichen Vorurteile in den meisten Fällen auch in den Partnern selbst verankert sind und eigene Zweifel dadurch von außen immer neue Nahrung erhalten.
Bei all diesen Schwierigkeiten entschließen sich viele behinderte Menschen entweder notgedrungen zum Single-Dasein oder beschließen, einen gleichfalls behinderten Partner zu wählen. Die Probleme werden sicherlich damit nicht kleiner, nur auf eine andere Ebene verlagert.
Abschließend ein positiver Gedanke: Noch nie waren die Chancen für behinderte Menschen so groß wie heutzutage, ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Und damit verbunden ist auch die Möglichkeit, die eigenen sexuellen Neigungen, die früheren Generationen behinderter Menschen schlichtweg abgesprochen und vorenthalten wurden, zu entfalten und leben zu können. Lassen Sie sich nicht abbringen vom Recht auf eine erfüllte Sexualität und eine erfüllte Partnerschaft.
Halten Sie es wie der Präsident des Amerikanischen Blindenverbandes, der auf die Frage, wie er seine Frau kennenlernte, sagte: "It was love at first touch" (Es war Liebe auf den ersten Griff).
Hinweis: Im Neuen Allgemeinen Krankenhaus der Stadt Wien wurde eine Beratungsstelle der Österreichischen Gesellschaft für Familienplanung eingerichtet, die sich mit den sexuellen Problemen behinderter Menschen befaßt: Sexualberatung für Frauen und Männer mit Behinderung: Neues Allgemeines Krankenhaus Wien, Währinger Gürtel 18-20, 1090 Wien, grüner Lift, Ebene 8, Frauenheilkunde: Leitstelle 8 c, Blaue Wartezone
Beratungszeiten: Jeden 1. und 3. Dienstag von 16:00 bis 18:30 Uhr Telefonische Voranmeldung: Mo, Di, Do, 16:00-18:30 Uhr unter Nummer: (01) 40 400/285
Aus: "RP - Info" 26/Jahrgang 7, August 1996
Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung der Autorin.
Erstellt am Di, 07.11.00, 07:57:20 Uhr.
URL: http://anderssehen.at/alltag/berichte/flirten.shtml