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Darf ich bitten?

Vor vielen Jahren wollte einmal ein Freund sein Sehvermögen mit meinem vergleichen. Wir versuchten uns an Werbeaufschriften und Verkehrsschildern. Was dabei herauskam überraschte mich nicht, bestätigte es doch die Befunde meines Augenarztes. Mein Freund sah auf 100 m Entfernung etwa dasselbe wie ich auf etwa 10 bis 12 m.

Was mich allerdings überraschte, war die Tatsache, daß er auf 100 m Entfernung noch Menschen erkennen und sogar beobachten konnte, von deren Existenz ich nicht einmal etwas ahnte, denn sie befanden sich außer Hörweite, ich konnte sie ja nicht sehen. Interessant war das deshalb, weil man ja schließlich den Spieß auch umdrehen kann, das heißt, daß mich die Leute über große Entfernungen hinweg beobachten können, ohne daß ich das bemerke.

Die Übertragung unseres Testergebnisses auf geringere Entfernungen ist zwar nicht ganz korrekt, denn jede Augenerkrankung hat ihre Besonderheiten, aber in meinem Falle, und sicher auch in vielen anderen, liefert sie durchaus brauchbare Ergebnisse.

Interessant wird das Ganze bei Entfernungen unter 25 m, also in dem Entfernungsbereich, in dem Menschen Kontakte anzuknüpfen pflegen, zum Beispiel in Tanzsälen und Diskotheken. Gerade Tanzveranstaltungen eignen sich zur Kontaktaufnahme mit dem anderen Geschlecht. Wie sieht es da aus?

Die Beleuchtung soll Atmosphäre schaffen und ist deshalb meist gedämpft. Das ist für Sehbehinderte sehr ungünstig, weil sie gewöhnlich mehr Licht brauchen, um ihr Sehvermögen optimal und mit der geringsten Anstrengung nutzen zu können. In Diskos kommen oftmals noch schnell wechselnde und deshalb sehr augenbelastende Lichteffekte hinzu. Der oft starke Kontrast zwischen blendenden Scheinwerfern und dem viel dunkleren Raum, aber auch ständig wechselnde Lichtfarben und die Schattenbildung wirken verwirrend. Daß Lärm die Konzentrationsfähigkeit mindert, ist bekannt. Und wenn man sich schon sehr auf das Sehen konzentrieren muß, dann ist allein schon der Lärm der Musik und des Barbetriebs eine nicht zu unterschätzende Belastung.

Eine Tanzpartnerin zu finden stößt auf zwei Probleme: Erstens muß man sie irgendwo im Raum entdecken und zweitens muß man auch einen Blick auf ihr Umfeld werfen. Will sie überhaupt tanzen? Ist sie mit anderen Menschen im Gespräch? Hat sie einen (möglicherweise eifersüchtigen) Partner? Einem Sehenden genügen oft wenige Blicke und alles ist klar. Sehbehinderte Frauen haben es an dieser Stelle etwas leichter, denn noch ist es nicht ganz unüblich, sich von den Männern zum Tanz auffordern zu lassen. Dafür sehen sie vielleicht nicht ganz so gut aus wie vollsehende Frauen, die sich meist besser herrichten können, um wenigstens attraktiv zu wirken, wenn ihnen die Natur schon keine allzu große Schönheit mitgegeben hat. Schließlich lassen sich mit etwas Kosmetik auch vollsehende Männer täuschen.

Und wenn wir gerade bei den Frauen sind: SIE hat mich natürlich längst gesehen und beobachtet, wenn ich ihr das nach dem ersten Blick überhaupt noch wert bin. Denn während ich meine liebe Not damit habe, sie auf 20 m Entfernung einigermaßen beurteilen zu können, sieht sie mich vielleicht so, wie ich sie aus 3 bis 4 Metern Entfernung sehen könnte. Um sie genauso deutlich zu sehen, muß ich schon ihren Dunstkreis betreten. Dazu gibt mir der Tanz vielleicht Gelegenheit, aber gerade dann darf ich sie nicht zu direkt betrachten, das könnte sehr falsch ankommen.

Was mir dagegen sehr viel weiterhilft, ist das, was ein Sehender beim Tanzen auch haben kann, nämlich die körperliche Nähe. An keinem anderen Ort als im Tanzsaal kann man einer fremden Frau ungestraft so nahe kommen. Aber der Weg zu ihr ist noch mit einigen Hürden gepflastert. Ob sie mit mir tanzen will kann nämlich auch davon abhängen, wie leicht und locker ich mich auf den Weg mache, oder ob ich vielleicht unsicher auftrete, weil ich Probleme habe, Hindernissen auszuweichen oder weil ich mir meiner Sache nicht ganz sicher bin.

Was und wen ich an dem Ort vorfinde, an dem sich meine Tanzpartnerin befinden soll, ist auch nicht ganz sicher. Zum einen kann jemand anders schneller sein als ich. Dann habe ich Pech, vielleicht finde ich schnell genug eine andere Partnerin. Es kann sich aber auch herausstellen, daß ich die Lage falsch eingeschätzt habe, und die Frau will alles andere, nur nicht tanzen, weil sie beschäftigt ist oder nicht mit mir tanzen mag. Möglicherweise hat sie mir ihre Ablehnung längst mit einem Blick signalisiert, den ich aber übersehen oder falsch gedeutet habe.

Einmal ist es mir sogar schon passiert, daß ich beinahe einen sehr langhaarigen jungen Mann zum Tanz aufgefordert hätte. Ich kam von schräg hinten heran. Zum Glück bemerkte er mich und drehte sich um. Dadurch erkannte ich meinen Irrtum gerade noch rechtzeitig. Ich bat ihn um eine Zigarette und war damit aus dem Schneider. Vielleicht hätte ich mich sonst gar mit ihm prügeln müssen, und das ist nun wahrlich nicht meine Stärke.

Falk Webel

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© 2003 by Falk Webel
Erstellt am Mi, 12.03.03, 08:47:00 Uhr.
URL: http://anderssehen.at/alltag/berichte/tanz.shtml

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