Es bedarf noch sehr viel Aufklärungsarbeit bis auch der Letzte begriffen hat, dass es unter Sehbehinderten genauso wenig oder viel Geistig Behinderte oder Psychisch Kranke gibt wie unter Sehenden. Und dass es nicht am Gesichtsfeld liegt, ob jemand sein Leben für ihn positiv lebt und erlebt.
Ich möchte mich hier nicht hervorheben. Aber vielleicht macht meine Geschichte einigen Menschen in meiner Situation Mut und Kraft.
Letztlich ging bei mir im August 2000 das Licht aus. Innerhalb Weniger Tage (?), Stunden (?).
Da dieser X-day für mich traumatisiert ist, kann ich nicht sagen in welcher Zeit ich kein Licht mehr wahrnehmen konnte. Es ist mir heute nicht mehr wichtig.
Bei mir in der Familie liegt RP vor. Wie ich erst jetzt herausgefunden habe, denn richtig wollte keiner in meiner Familie darüber sprechen. So eine Erkrankung passt eben nicht zu leistungs- und Erfolgsgewohnten Menschen. Oder doch ?!
Mit was für einer Naivität man Erkrankungen verdrängt, macht mich heute wütend.
Denn:
Mein Vater war aufgrund seiner RP ab seinem 75 Lebensjahr fast ohne
Licht.
Da er es noch nicht mal gegenüber seiner Familie zugeben wollte, zog
er sich
fast auf Haus und Garten zurück. Und ... über Erkrankungen spricht
man nicht, wie über Geld.
Dann:
Meine Großmutter war ebenfalls blind.
Da sie starb als ich noch ein Kind war und Oma passte wie jede
andere
Großmutter der Welt auf mich auf, ist es mir nicht aufgefallen. Sie
putzte ihr Haus, ging einkaufen, backte Kuchen
wie die Omas meiner Spielkameraden. Und das Thema "blind" wurde
ausgeklammert.
Und:
Bei einer Nichte von mir hat man ebenfalls RP
festgestellt. Na prima!
Ich habe meinen schulischen und beruflichen Weg gemacht, ohne auch nur einen Anhalt für meine schleichende Erblindung zu haben. Oder doch ?
Die ersten Schwierigkeiten beim Sehen traten bei mir mit 14 Jahren auf. Der Augenarzt verschrieb mir eine Brille, durch die ich nicht scharf Sehen konnte. Als ich die Glasstärke reklamierte meinte er ich solle mich nicht so anstellen, schließlich müsse sich das Auge erst an die Stärke der Gläser gewöhnen. Und außerdem hätte ich wohl Stress auf dem Gymnasium. Vielleicht eine andere Schulform ? .... Nein, danke, das reichte mir! Da meine Eltern als Selbstständige keine Zeit hatten mit mir Arzttermine wahrzunehmen, behielt ich den Rat tunlichst für mich.
Das Gleiche passierte mir mit 16 Jahren wieder.
Dann kam die Führerscheinprüfung. Da ich den Augenarzt, der das Gutachten schreiben musste, gut kannte, bekam ich meinen Führerschein. Er riet mir allerdings immer bedächtig zu fahren. (Ich war die wildeste Autofahrerin jenseits der Berge!)
Irgendwann konnte ich während meines BWl Studiums die Tafelnotizen Meines Mathe Profs nicht mehr lesen.
Da ich in den letzten Jahren vor meiner Erblindung fast nur für meine Familie da war, fiel mir mein Sehverlust nur partiell auf. Im Beruf habe ich ca. seit 1996 nur noch mit vergrößertem Schriftbild gearbeitet. Zuletzt war selbst dieses für mich nur noch schwer zu entziffern. Doch getreu dem Motto ... über Krankheiten redet man nicht .... habe ich diese Tatsache für mich behalten. Außerdem wollte ich nicht schon wieder auf die psychische Schiene gestellt werden.
Im November 1999 trennten sich mein Mann und ich. So lag die Diagnose auf der Hand als ich mich, in der letzten Phase meiner Erblindung, wieder an meinen Augenarzt wendete. Psychosomatische Folgen unserer gescheiterten Ehe.
Der Pferdefuß passte aber nicht ins Bild. Einen Monat später verlor ich, frisch verliebt wie nie zuvor, mein Augenlicht.
Vor diesem Tag war ich, neben meinem Cousin, ein Bindeglied der Großfamilie. Für jeden und jedes Anliegen hatte ich ein Ohr, diskret und zuverlässig.
Doch als ich von der Klinik nach Hause kam, war ich erst einmal allein. Ich hatte immer noch den Schreck im Genick. Zudem wollten ratlose Geister mir "Gutes" angedeihen lassen:
Eine Verwandte wollte den Übertrag des Vermögens meiner Mutter rückgängig machen. Da ich ja nicht mehr persönlich meine betagte Mutter pflegen könne. (ein Passus im Übertrag)
Sie räumte meinen Kleiderschrank leer, um einen Grund zu haben mit mir einkaufen zu gehen. Nach ihrem Geschmack. Sie sprach für mich. Als ich mich renitent gegen ihre Intervention wehrte, wurde ich zu einer Psychiaterin gebracht. Die fand heraus, dass ich wegen der Trennung von meinem Mann mein Augenlicht verloren hätte. Schön wär's. (und wann kann ich dann wieder Farben sehen?).
Als ich merkte was meine Verwandte im Sinn hatte, fragte ich mich, wie ich in 10 Jahren leben wollte.
Und ... ein Kollege von mir vermittelte mir den Kontakt zu einem Späterblindeten, der mir durch tägliche Telefonate Jahre meines Lebens ersparte.
Mir wurde bewußt, dass ich als Person nach meiner Erblindung genauso vollwertig war wie davor. Und wer sollte mich daran hindern die Ziele, die ich vor dem X-tag hatte zu realisieren? Finanziell bin ich abgesichert.
Zuerst erkundete ich meine Umgebung, mein Haus, meinen Garten. Welche Tricks brauchte ich, um Haus und Garten in Ordnung zu halten? Ich beschäftigte mich damit. Dann machte mir zu schaffen, wie ich Tag und Nacht auseinander halten konnte. Sprechende Uhren schufen Klarheit. Dann die Wäsche! Horror! Und dann erst das Kochen und Backen.
Indem ich mich pausenlos beschäftigte, kam ich erst gar nicht auf den Gedanken über mein Gesichtsfeld zu reflektiren. Nur nachts, wenn es ruhig war, kamen Ängste auf. Ich schaltete das Radio ein, den Fernseher oder nahm meinen Rosenkranz.
Der Kontakt zum hiesigen Blindenverein brachte mich tausende von Kilometer vorwärts. Meinen ersten Stock organisierte ich mir selber, ebenso wie mein erstes Mobitraining.
Da ich vor meiner Erblindung als Weiterbildung Pflegemanagement studieren wollte, erkundigte ich mich nach einem geeigneten Studienort. Vornehmlich in einer Großstadt. Da ich durch deren Anonymität leichter beruflich auf die Beine kommen könnte.
Also nichts wie weg von der Verwandtschaft, die mir mein Vermögen streitig machen wollte.
Ich suchte mir meine Wohnung aus und ohne meine damaligen Kollegen hätte ich nie meine Möbel in meine neue Wohnung bekommen. 300 km entfernt von dem Ort an dem ich bis dato gelebt hatte. Als alle nach dem Umzug wieder auf der Autobahn waren, bekam ich es mit der Angst zu tun. Wie sollte ich in einer Großstadt klar kommen, die ich nur z.T. vom Sehen her kannte. Wem könnte ich vertrauen. dachte ich. Und : Ich stellte mir immer die Frage Leben oder überleben. Doch die Stunden, die ich damals durchlebt habe, wünsche ich nicht meinem Erzfeind.
Ich bekam Mobitraining.
Nach zahlreichen durchweinten Nächten packte mich die blanke Wut. So! Denen zeig ich`s! Also wollte ich überleben oder leben? Klar: Leben!!!!!
Ich lernte Braille, lernte meine Wohnung, mein Haus und meine Umgebung kennen. Lernte wie man in U-Bahnen ein- und aussteigt. Lernte wie man im Supermarkt einkauft. .....
Und dann war es mir irgendwie zu langweilig ewig und drei Tage nur durch die Weltgeschichte zu tapern. Oder den Haushalt zu schmeißen.
Ich wählte die Auskumft an und ließ mich mit Beratungsstellen in der offenen Altenarbeit verbinden. Die erste Bewerbung klappte! Ich hatte eine Praktikumsstelle.
Durch meine Arbeit fiel mir der Bedarf an Hilfsmitteln auf. Da meine Krankenkasse nicht in den Quark kam, kaufte ich mir mein Laptop mit Sprachausgabe. Wie hätte ich auch sonst meine Projekte leiten können, über den Zeitraum meines Praktikums hinaus? Ich saß nächte über meinem PC! Bis ich schließlich diese gräßliche Sprache Hanibal taufte. (wie Hanibal Lektor aus Schweigen der Lämmer).
Heute bin ich in meiner Beratungsstelle Leiterin von mehreren Projekten, daneben studiere ich Pflegemanagement.
Es ist mir bewußt, dass ich aufgrund meines Handicaps mein Studium nicht in der Regelzeit abschließen werde. Doch - soviel ich weiß - bin ich die erste Nichtguckende in der Bundesrepublik, die zur Managerin im Pflegebereich ausgebildet wird. Zwar sagt man, dass Eigenlob stinkt. Doch .. ich bin stolz auf mich.
Und ich möchte allen Mut machen sich nicht auf Schieflagen oder in Abhängigkeiten zu begeben. Zwar ist es angenehmer und nervenschonender, wenn man eine Arbeitsassistenz hat. Zwar ist es bequemer eine Haushaltshilfe zu haben .. Zwar ist es leichter, fremde Menschen einzuhängeln.... Doch werten wir uns nicht dadurch selbst ab. (Ich bin mit jedem solidarisch, der es für sich akzeptiert).... doch der Verrat an Freiheit ist es, sich in Abhängigkeiten zu begeben.
Wir sind starke Persönlichkeiten, die es nicht nötig haben, dass schwache Persönlichkeiten auf uns "runter schauen". Wir sind wert genug, gleichrangig, gleichwertig und mit der gleichen Selbstverständlichkeit normal zu leben, wie Otto Normalverbraucher auch.
Und: Entweder nimmt mich jemand so wie ich bin, oder gar nicht.
© 2002 by Rosa Roth
URL: http://anderssehen.at/alltag/berichte/weg.shtml