Sie sind hier in:
Startseite / Alltag / Reise / Briefe von Unterwegs - Übersicht / Rundbrief 1 /

Briefe von Unterwegs
Türkei, Iran, Pakistan Indien

Rundbrief 1
There and back again
Zwei Wochen in der Türkei
- Basel, 11. November 2004

Liebe Freunde, Verwandte und Bekannte,
Vor etwa einem Monat habe ich Euch von meinen Reiseplänen erzählt. Mittlerweile bin ich tatsächlich aufgebrochen und ... bereits wieder zu Hause. Doch eins nach dem anderen.


Aufbruch

Zwei Tage vor meiner Abreise, am Abend des 14. Oktober, gab's eine erste Goodbyeparty mit meinen Eltern und meinen beiden Brüdern samt Familien. Es war eine Première. Ein ganzes Dutzend von uns um einen Tisch in meiner Wohnung an der Ramsteinerstrasse. Am nächsten Tag ging's ans Auf- und Ausräumen meiner Wohnung und ans Packen.

Dank Johannas (ehemals Hannas) tatkräftiger Hilfe war es am Nachmittag sogar noch gelungen, mein Habilitationsgesuch und ein Gesuch um einen Druckkostenbeitrag fertig zu machen und zur Post zu bringen, und dank der starken Arme und Nerven der abendlichen Gäste waren schliesslich auch alle Kartons mit Büchern, Kleidern, Flöten und was es so an Kram wegzuräumen galt auf dem Estrich verstaut. Es war ein turbulenter Tag, der in eine ebenso turbulente Abschiedsparty einmündete. Leider hatte die Zeit nicht mehr gereicht, dieses für die Freunde gedachte Event gebührend anzukündigen und vorzubereiten. So kamen nur einige ausgewählte Menschen in den Genuss dieser Solidaritätsveranstaltung zu Gunsten eines planerisch leicht überforderten Weltreisenden. Gegen elf Uhr abends war schliesslich alles mehr oder weniger unter Kontrolle. Jetzt konnte das Trinken und Singen und das Beglückwünschen losgehen. Um zwei Uhr in der früh, als der Abschied ordentlich gefeiert und die Gäste weg waren, fing ich schliesslich an, meinen Rucksack zu packen und meinen PC für meinen Untermieter vorzubereiten. Pünktlich um halb sieben klingelte Wolfgang, den ich einige Monate zuvor als Mitreisenden bis Isfahan gewonnen hatte. Um zehn nach sieben sassen wir im Zug nach Ancona, und am Abend gingen wir an Bord der Autofähre, die uns in zwei Tagen und drei Nächten nach Chesme an die türkische Westküste brachte.

Eigentlich wollten wir die Türkei ziemlich schnell hinter uns lassen. Kurz vor unserer Abreise hatte sich jedoch herausgestellt, dass Wolfgang kein Visum für den Iran bekommen würde, sodass wir statt 8 Tagen beinahe drei Wochen Zeit für die Türkei haben würden. Wir verliessen die Küste dennoch am selben Tag und fuhren per Bus und Dolmusch über Ismir und Dennisli oder so ähnlich nach Pamukale. In Pamukale wurden wir sofort gefragt, ob wir ein Hotel suchten. Der junge Mann, der uns fragte, schien 16, höchstens 18 Jahre alt. Später erzählte er uns, er sei 24. Mustafa, so hiess er, brachte uns zur Pension Algäu, wo wir die nächsten zwei oder drei Nächte zubrachten.

Zurück zur Übersicht


Pamukale UND Eidir

Die Pension Algäu verdankt ihren Namen dem Umstand, dass die Frau des Besitzers bis zu ihrem elften Lebensjahr im Algäu gelebt hat. Ihr Deutsch war entsprechend gut, und sowohl sie, als auch ihr Mann Memet und ihr Bruder Mustafa sprachen ausserdem ziemlich gut englisch.

Der oberhalb des gleichnamigen Dorfes gelegene Pamukale gehört wegen seiner weiss leuchtenden, von Wasser überspühlten Kalksteinterassen zu den touristischen Standardausflügen für alle Türkeibesucher. Mir blieb die Schönheit dieser Terassen allerdings verschlossen. Weder Wolfgangs Beschreibungen noch unsere Begehung und meine Befühlungen des Pamukale erzeugten die Begeisterung, in welche der gute Tourist angesichts dieses wie aus Watte gemachten Über- und Nebeneinanders von Wasserbecken und -kaskaden verfällt. Auch die in den Hügeln oberhalb des Pamukale weitläufig verstreuten Steine - angeblich einer der grössten antiken Friedhöfe und eine einstmals mächtige Stadt namens Herapolis - konnten bei mir nicht die Begeisterung wecken, die man angesichts soviel geschichtsträchtiger Vergangenheit erwarten würde. Interessant war immerhin das rege Kommen und Gehen der Busse mit ihren eifrig ein- und aussteigenden Menschen aus fast aller Welt, welche sich dem Genuss des Pamukale ergaben, um nach einem kleinen Imbiss zum nächsten Highlight ihrer Reise zu brausen. Im stillen Dorf war von diesem Rummel nichts zu spüren gewesen, und auch der ruhige Aufstieg zu einem Nebeneingang des Pamukale - grosser Parkplatz mit zwei Autos und ein Kassenhäuschen mit einem schlafenden Wärter - liess nichts dergleichen erahnen.

Dieser morgendliche Aufstieg bleibt für mich vermutlich mein eigentliches Pamukaleerlebnis. Kaum waren wir aus dem Dorf schien die Landschaft menschenleer. Ausser unseren Schritten und unseren gelegentlichen kurzen Gesprächen war es so ruhig, als ob hier seit tausend Jahren nichts geschehen wäre. Dazu kam der seltsam antik wirkende Teerbelag der Strasse mit seinen flachen, mosaiksteinähnlichen Kieseln und die trockene Erde Anatoliens mit ihrem Bewuchs aus spärlichen Gräsern und beinah dürr scheinendem, dornigen Gestrüpp. Kaum zu glauben, dass diese staubtrockenen, krümeligen Hügel, die im Sommer und Herbst durch ihre ungewohnten Rot- Grau- und Grüntöne bezaubern, sich im Frühjahr für 4 bis 8 Wochen in eine saftige, in allen Farben leuchtende Graslandschaft verwandeln sollen. Doch so ist es offenbar. Ich spüre die Trockenheit dieser von ihrem spärlichen Bewuchs nur unzureichend zusammengehaltenen Erde und wundere mich, dass hier überhaupt noch Erde ist. Ich stelle mir vor, wieviel Erdreich hier während eines kräftigen Regengusses weggeschwemmt wird. Thomas, ein Radfahrer aus Bayreuth, dem wir später begegneten, erklärt mir, dass die Erosion wohl vor allem deshalb kein so grosses Problem darstelle, weil starke Regenfälle in der ganzen Türkei selten seien. Vielleicht hat er recht. Sicher bin ich nicht. Mein Staunen über dieses karge Land und meine Fragen bleiben.

Zu guter letzt sei noch jenes alte Kamel erwähnt, welches zu den kleineren Attraktionen Pamukales gehört, das ich aber dennoch nicht so schnell vergessen werde: Es lag irgendwo am Strassenrand und diente offenbar als eine Art Magnet für arglose Touristen. Als wir das eindrückliche Tier bestaunten, kam jedenfalls sofort ein vielleicht zehnjähriger Junge aus dem nächsten Haus gelaufen, zeigte auf Wolfgangs Digitalkamera und rief "Photo! Photo!" Wir stellten uns umgehend vor dem Riesenkamel auf, um uns von dem Jungen knipsen zu lassen. Als er uns dann allerdings noch dazu bewegen wollte, sein Wüstenschiff zu besteigen lehnten wir dankend ab. Daraufhin hielt er seine Hand hin und sagte "ten million", ein Fantasiepreis, auf den nicht einmal wir beide uns einliessen. Während Wolfgang dem Buben schliesslich eine Million Lira in die Hand drückte, begann im innern des Kamels plötzlich ein unheimliches Gurgeln und Blubbern. Es klang als ob jemand dort drin einen alten amerikanischen Zwölfzylindermotor starten wollte oder mittels einer dieser bekannten Gummiglocken einen verstopften Syphon zu entstopfen versuchte. Das bedrohliche Rumoren erinnerte mich an all die schlechten Dinge, die man von den Kamelen erzählt, an ihre Gewohnheit, unschuldige Touristen anzuspucken und zu beissen oder nach ihnen zu treten. Es schien mir deshalb Zeit, unsere erste Kontaktaufnahme mit diesem interessanten Transportmittel zu beenden und uns wieder den höheren Reizen Pamukales - z.B. dem in der Pension Algäu auf uns wartenden Nachtessen - zuzuwenden, bevor wir vielleicht die Opfer eines entsprechenden Attentats würden. Vielleicht habe ich im Verlauf der Reise ja noch andere Gelegenheiten, meine Kenntnisse der Kamelseele zu vertiefen und mich mit diesem eigenartigen Tier anzufreunden. Vielleicht sogar als Mitglied einer Karawane? Vielleicht in der Wüste Thar ...

Nach Pamukale fuhren wir weiter an einen See - Eidjer See oder so ähnlich -, den uns Memet und seine Frau empfohlen haben. Wolfgang, der in der Nähe des Bodensees aufgewachsen ist, freut sich über das Wasser und den beinahe heimatlich wirkenden Horizont. Ich lausche in unserem an sonsten ganz ruhigen Hotelzimmer den Rufen des Muezins, der uns alle paar Stunden daran erinnert, dass die nächste Moschee nah und Allah allmächtig und gross ist. Als ich den auf- und abschwellenden Ruf des Muezins in Chesme zum ersten Mal hörte, dachte ich für einen Moment an einen Sirenenalarm. Seither habe ich mich daran gewöhnt, dem seltsamen Singsang mit gebührender Ehrfurcht zu lauschen. Ich stelle mir vor, dass das Läuten unserer Kirchenglocken für ungeübte Ohren vielleicht ähnlich gewöhnungsbedürftig ist wie die Rufe des Muezins es für uns sind. Ich beginne dem Gesang zuzuhören und versuche herauszufinden, ob eigentlich alle Muezine gleich singen oder ob es hier individuelle Varianten gibt. Wolfgang und ich spekulieren über die sonstigen Aufgaben eines Muezin und über dessen Ausbildung. Memet - auch der Wirt unserer Pension am See heisst praktischerweise Memet - erklärt uns, dass früher jede Moschee ihren Muezin hatte, der die Gläubigen fünf mal am Tag zum Gebet rufen musste. Heute sind mehrere Moscheen mit einander verbunden und mittels eines Mikrophons und den auf allen Minaretten aufgestellten Lautsprechern bedient ein Muezin gleich eine ganze Gruppe von kleineren Moscheen. Rationalisierung also auch hier.

In Eijedir begegneten wir Kadir, einem etwa 60jährigen Teppichändler, der offenbar ziemlich weit gereist war und fliessend englisch und deutsch sprach. Kadir, der sich im Herbst 2002 (ohne Erfolg) als sozialdemokratischer Abgeordneter zur Wahl gestellt hatte, pries u.a. die Friedfertigkeit des türkischen Volkes und die Toleranz der osmanischen Herrscher. Als ich ihn zaghaft auf den Völkermord an den Armeniern ansprach, erklärte er mir, dass dies alles unbewiesene Behauptungen und Übertreibungen der westlichen Medien und Historiker seien, welche bis heute nicht aufhören könnten, die Türkei in ein schlechtes Licht zu stellen. Johanna erklärte mir später, dass der Mord an den Armeniern in der Türkei seit Jahrzehnten ein Tabuthema sei, das in den Schulen nicht vorkomme, sodass auch viele gebildete Türken die entsprechenden Vorgänge einfach leugneten. Die offenere Bearbeitung dieses Kapitels ihrer Geschichte gehört deshalb offenbar auch mit zu den Bedingungen, welche die Türkei erfüllen muss, wenn sie in die EU aufgenommen werden will. - In ein ähnliches Kapitel fällt die allgegenwärtige Verehrung Attatürks. Attatürk hat nach dem 1. Weltkrieg aus den Resten des damals endgültig zusammengebrochenen osmanischen Reiches innerhalb von drei Jahren die moderne Türkei geschaffen. Es war eine militärisch und politisch herausragende Leistung, und auch als Staatsgründer hat Attatürk sicherlich seine Verdienste. Bis heute darf aber über seine problematischen Seiten nicht gesprochen werden. Er gilt nach wie vor als der über alle zweifel erhabene "aller Türken". Wie Johanna mir erzählte, beginnen die Kinder in der Türkei jeden Schultag mit einem Treueeid auf Attatürk und sein Bild ist in der Türkei omnipräsent. Dass er ein extremer Militärkopf war und die starke und problematische Rolle, welche das Militär bis heute in der Türkei spielt, auch auf sein Konto geht, wird ebenso ignoriert wie sein Alkoholismus oder - für mich am spürbarsten - seine repressive Politik gegenüber den Kurden und anderen "Minderheiten", die er alle zu Türken machen wollte und machte. Für die Kurden bedeutete dies bis vor kurzem u.a, dass ihre Sprache in der Öffentlichkeit nicht gesprochen werden durfte, dass es keine kurdischen Medien gab und dass die kurdische Kultur in der öffentlichen Diskussion keine Rolle spielte. Noch heute ist kurdisch keine anerkannte Landessprache, sodass in der staatlichen Schule z.B. nur türkisch gesprochen wird. Diese Politik der Konfrontation und Repression hat in den kurdischen Gebieten der Türkei, d.h. vor allem im Osten, seit Jahrzehnten zu Spannungen und Kämpfen geführt. Dass diese Situation sich in den letzten zwei bis drei Jahren wesentlich verändert hat und man jetzt viel stärker auf Kooperation und Integration setzt ist zu einem sehr grossen Teil das Verdienst des jetzigen Premierministers Ördewan. Die einen meinen, es gehe ihm dabei vor allem um den EU-Beitritt, andere glauben, dass es ihm bei seiner veränderten Kurdenpolitik tatsächlich auch um die Sache selbst geht. Ich weiss es nicht. Wie bei so vielen Dingen reichten auch hier Zeit und verfügbare Informationsmittel nicht aus, der Sache wirklich auf den Grund zu gehen. Was ihr hier zu lesen kriegt sind deshalb fast immer nur Eindrücke und Aussagen, die es noch zu verifizieren gilt. Dasselbe gilt natürlich auch für die Schreibweise der diversen Orte und Namen. Alles müsste überprüft und genauer untersucht werden. Denkt daran, wenn ihr diese Rundbriefe lest.

Vom Eidjersee ging's weiter nach Kappadokien. Wir unterbrachen die ca. achtstündige Busfahrt in Kornia, der Stadt, in der Rumi begraben liegt. Bis kurz vor meiner Reise kannte ich diesen Rumi nicht. Nachdem ich jedoch gehört hatte, dass seine mittlerweile 700 Jahre alten Gedichte im Iran noch immer zu den populärsten Texten gehören wollte ich nicht einfach durch Kornia fahren ohne Rumis Grab zu besuchen. Doch entweder haben wir unseren Lonely Planet nicht genau genug studiert oder wir haben nicht hartnäckig genug gefragt: Dort wo wir dieses seither zur Pilgerstätte gewordene Grab suchten, war es jedenfalls nicht, sodass wir nach zwei Stunden Stadtverkehr und Museumsmystik unverrichteter Dinge den Abendbus in Richtung Gürümer bestiegen.

Zurück zur Übersicht


Kappadokien

Gürümer ist das touristische Herz Kappadokiens, und Kappadokien gehört zu den grossen Attraktionen der Türkei. Auch diesmal habe ich mich als Tourist nur zum Teil bewährt: Die eigenartige Tuffsteinzipfelmützenwohnlandschaft, durch welche Kappadokien zu internationalem Ruhm gelangt ist, blieb mir ein mystisches Rätsel. Wolfgang hat mir diese skurrile Landschaft zwar immer wieder zu beschreiben versucht, aber da, wo ich an keine mir bekannten Bilder oder Strukturen anknüpfen kann, ist das Begreifen oft Schwerstarbeit. Ich müsste dazu stundenlang in dieser Landschaft herumgehen, die künstlich ausgehöhlten Türme beklettern und bekriechen, bis aus meinen Eindrücken und Wolfgangs Erklärungen allmählich ein zusammenhängendes, in sich stimmiges Bild entsteht. Das ist, wie gesagt, nicht nur mühsame Schwerstarbeit; es ist oft auch nur bedingt möglich, denn nicht alles lässt sich beklettern und begreifen. Manche Dinge sind dazu einfach zu gross oder zu steil. Die ideale Lösung in diesem Fall sind Modelle. Wenn sie selber nicht zu gross oder zu klein sind. Durch sie wird das Unbegreifbare für mich auf überraschend einfache Weise begreifbar. Obschon sie nicht das eigentliche Ding sind, können Modelle für mich also enorm hilfreich sein. Nur sind auch Modelle nicht immer zur Hand, und oft denke ich nicht daran, gezielt nach ihnen zu fragen. Die berühmten Tuffsteintürme Kappadokiens blieben mir also einigermassen fremd. Dagegen war ich von den unterirdischen Siedlungen, in welchen die BewohnerInnen Kappadokiens während Jahrhunderten vor ihren Feinden Zuflucht gesucht hatten, indem sie sich manchmal während Monaten in diesen bis zu sieben Stockwerken tief in den Felsen gegrabenen Räumen aufhielten, unmittelbar beeindruckt. Sie sind wie ein Abenteuerspielplatz: Rauf und runter in engen Gängen, eher Rutschen als Treppen, hier ein runder Durchbruch wie ein Bullauge in den Zentralschacht - weit oben Frischluft und tief unten Wasser! Hier ein Felsenraum mit drei grossen in den Fels gehauenen Wannen, in denen man die Kleinkinder unterbrachte. Hier die Ställe für das Vieh, hier eine unterirdische Küche mit einem hunderte von Metern entfernt liegenden Rauchabzug ... unglaublich diese vergangene Welt mit ihren Geheimnissen ... Doch wenn ich jemals mit diesem Rundbrief zu Ende kommen will, so müssen wir weiter ... Schaut bei Gelegenheit mal in einen Türkeiführer, rekonstruiert meine Route und staunt über die eigenartige Landschaft Kappadokiens. Von Sali werdet ihr dort allerdings nichts lesen können: Sali, der arme Bauernjunge aus der Osttürkei, der erste, der sich uns gegenüber als Kurde geoutet hatte.

Salis Familie war nach Gürümer gezogen als er 12 Jahre alt war - nicht, weil sie im Osten so arm gewesen waren, sondern weil sie dort aufgrund der Kämpfe zwischen dem Militär und der PKK nicht mehr leben konnten. Sie seien so oft zwischen diese beiden Fronten geraten, dass der Vater seinen Hof schliesslich aufgegeben habe und nach Westen gezogen sei. Natürlich hätten sie wenig gehabt, doch das Leben im Osten sei gut gewesen. Damals hätten sie alle von einem Teller gegessen. Jetzt hätte jeder von ihnen seinen eigenen Teller. Materiell gehe es ihnen besser. Er selbst habe eine gute Stelle, doch im Grunde sehne er sich jeden Tag nach dem einfachen Leben im Osten. Sali, mittlerweile selbst Vater, ein Kurde, der den Absprung geschafft hatte. Er arbeitet in einer Kooperative, in welcher Teppiche und Kelims hergestellt werden. Er versucht interessierte Schülerinnen für die Kooperative zu gewinnen, Frauen aus der ganzen Türkei, die im Sommer für zwei Monate nach Gürümer kommen und dort auf Kosten der halbstaatlichen Kooperative das Teppichknüpfen und -weben lernen. Danach können sie zu Hause produzieren. Die Kooperative stellt das Material zur Verfügung und kauft den Frauen ihre Produkte ab. Einerseits, so erklärt Sali, mit dem wir einen ganzen Vormittag verbringen, geht es darum, Frauen eine Möglichkeit zu geben, eigenes Geld zu verdienen. Andererseits geht es darum, eine handwerkliche Tradition am Leben zu halten. - Als wir Sali erzählen, dass wir vor haben, nach Dogubeyazit zu fahren, taut er regelrecht auf. Das sei sein Dorf, seine Heimat. Es würde uns dort sicher sehr gut gefallen. Er gab mir seine Adresse und ich lud ihn ein, sich mit mir in Verbindung zu setzen, wenn er jemals eine Einladung nach Europa brauche und für ein paar Tage oder Wochen bei jemandem wohnen wolle.

Dogubeyazit, eine kleine Stadt am Fuss des Ararat, war die letzte Station in der Türkei. Von dort wollte ich in den Iran weiter während Wolfgang sich wieder auf den Heimweg machen musste.

Zurück zur Übersicht


Dogubeyazit

Die Ankunft in Dogubeyazit war für beide von uns ein Schock: Fast niemand mehr, der englisch oder sonst eine brauchbare Sprache sprach. Die Stadt selber eher eine Art gross gewordenes Dorf, armselig, ohne irgend ein besonderes Gebäude, ohne kulturelles Flair, eine Ansammlung von kleinen Shops mit sich ständig wiederholendem Angebot (Handies, Handies und wieder Handies), nur ein paar wenige, nicht sehr ansprechende Restaurants, und auf den Strassen erstmals bettelnde Kinder und Frauen. Ein trostloses Kaff, dessen einzige Besonderheit der allgegenwärtige Blick auf den wolkenumhangenen Ararat ist. Dennoch war Dogubeyazit für mich so etwas wie der eigentliche Beginn meiner Reise. Denn hier begann für mich eine andere Welt. Irgendwann im Verlauf der lärmenden Busfahrt hatten wir offenbar so etwas wie die west-östliche Klo-Linie überquert. Sitzklos mit Toilettenpapier waren plötzlich eine Rarität. Wir mussten uns auf einfache Kauerklos mit dem gleich daneben angebrachten Wasserhahn und den kleinen Plastikkübelchen zum Waschen seines Hintern umstellen. Es war eine Umstellung, die mir gefiel, und deren Vorteile mir sehr bald einleuchteten. Es war aber auch das äussere Zeichen dafür, dass ich jetzt unterwegs war!

Wir fanden während der fünf Tage, die wir insgesamt in Dogubeyazit waren, zwar nur zwei Menschen (Martin und Seffer), mit denen wir uns einigermassen unterhalten konnten, doch gibt es in Dogubeyazit am Ende der Saison so wenig Fremde, dass Kontakte und Gespräche - wenn sie denn zustande kommen - schnell viel persönlicher werden als an Orten mit mehr Touristen. So erzählte Seffer uns sehr viel über sein erträumtes und reales, sein herbeitelefoniertes und erschreckt weggescheuchtes Liebesleben und über die kurdische Kultur, und Martin lud mich gleich zu einer Tour auf den Mount Ararat ein, nachdem ich mit ihm über ein paar Felsen zu irgend einem prächtigen Palast gekraxelt und er dabei meine alpinistischen Künste bewundert hatte. "We sleep in tent. I have good sleepingbag. Also crampon and good equipment. No Problem warm. I take gun with me for shoot chicken or rabbit for dinner. We cook with fire. You know. Many cows up there. We cook with they shit." Es klang verlockend, doch schliesslich sagte ich ab, denn die Schneegrenze liegt um diese Jahreszeit bereits irgendwo knapp über 3.000 Meter, und - untrainiert, wie ich bin - fand ich die Aussicht, dort oben vielleicht in einen Schneesturm zu geraten, nicht sehr verlockend. Immerhin. Ich versprach wiederzukommen. "Yes, yes. Blind people can do it. Last year they was a whole group from Spain blind association. They all made the top. No problem."

Nach einem Ausflug per Minibus in die Umgebung lud Martin uns zu einem Abendessen bei sich zu Hause ein. Die Männer auf der Erde sitzend in einem Zimmer, die Frauen und Kinder im Nebenraum. Nur hie und da eine sich leise öffnende Tür, ein zwei Worte und eine neue Schüssel, die vor uns hingestellt wird. Dann die Kinder, die gegen Ende des Essens die weniger streng bewachte Grenzlinie zwischen der Welt der Frauen und der Welt der Männer überqueren und die dortige Ordnung und Strenge mit ihrem Fragen und Plappern etwas auflockern. Dies ist Ost-Türkei life. Keine Inszenierung für Touristen, sondern das dortige Leben - halb westlich, modern, halb östlich, traditionell.

Der Hammambesuch, zu dem Seffer mich einlud, weckte ähnliche Hoffnungen. Thomas, der Radfahrer aus Bayern, den wir mit seiner Schwester in der Lobby des Hotel Ersurum kennengelernt hatten, kam mit. Er hatte in Ankara ein Hammam erlebt und schwärmte. Doch diesmal gab's nichts zum Schwärmen: Das Hammam gross, feucht und menschenleer. Seffer nervös, als ob er etwas zu verbergen hat. Thomas meint, Spuren von Schlägen auf seinem Rücken zu sehen. Vielleicht setzt er sich deshalb nicht zu uns, sondern rennt ständig wieder raus. Schliesslich geht Thomas, weil Seffer sich mir gegenüber vielleicht freier fühle, weil er vielleicht von Anfang an nur mit mir ins Hammam wollte. Nun. Die Stimmung bleibt merkwürdig. Seffer entspannt sich nicht. Vielleicht geht's ihm vor allem ums Geschäft und nicht, wie ich gemeint habe, um einen gemütlichen Abend mit einem Freund aus dem Westen. Ein Mann bietet mir an, mich zu massieren, doch nach zwei drei Minuten hört er bereits wiedr auf. Ähnlich hektisch verläuft die Relaxphase am Ende. Ich liege auf einer Art grossen Tisch oder Bett. Seffer bringt ein Glas Tee und setzt sich auf meine Aufforderung hin kurz neben mich. Wir beginnen zu reden. Für mich würde das Ganze jetzt losgehen, doch er ist schon wieder weg und verhandelt nebenan mit einer Frau, vielleicht die Betreiberin dieses Ladens am Ende der Welt. Ich frage Seffer nach dem Preis und ziehe mich an. Was er, bzw. die lautstarke Frau, will, ist einiges mehr als ich erwartet habe. Kurzes hin und her. Wir einigen uns irgendwo in der Mitte. Welcome in India könnte man sagen, aber wir sind noch immer in der Türkei. Immerhin. In Basel bin ich nicht mehr, und das ist in jedem Fall Reisen nach meinem Geschmack, eine art Crashkurs in internationalen Beziehungen und angewandter Tourismusforschung ...

Während ich noch über die Unmöglichkeit der kurdischen Liebe nachdenke, beginne ich mich nach dem Grenzübertritt in den Iran umzusehen. Denn hier, im Osten der Türkei, würde ich Wolfgang verlassen und allein weiter reisen. So jedenfalls war es geplant.

Nun. Wir Menschen denken und die Götter lenken. Als ich am 31. Oktober bei meiner Mutter anrief, um ihr zu sagen, dass es mir gut gehe, und ich in ein oder zwei Tagen nach Täbris im Iran aufbrechen würde, da hatte ich meinen Vater am Apparat, der mir erzählte, dass meine Mutter am Tag zuvor an einem Herzschlag gestorben sei. Nach kurzem Überlegen entschied ich mich dazu, meine Reise zu unterbrechen und zurück zu kommen. Zwei Tage später war ich wieder in Basel. Ich wollte mit meinen Brüdern und ihren Familien, mit meinem Vater und der übrigen Verwandtschaft sein. Und hier bin ich. In Arlesheim, statt irgendwo im Iran ...

Meine Mutter hatte während der letzten Jahre immer wieder gesagt, dass sie noch einmal etwas schönes erleben und dann schnell sterben möchte. Sie hoffte immer auf einen kräftigen Herzinfarkt. Natürlich waren und sind wir betroffen, und wir wissen, dass sie uns fehlen wird, denn sie hat trotz diverser altersbedingter Einschränkungen auch in den letzten Jahren noch sehr rege am Leben von uns allen teilgenommen. Vier Tage vor ihrem Tod war sie ganz erfüllt aus Südfrankreich zurückgekommen, wo sie und Hans, ihr abtrünniger Mann, seit Jahren wieder einmal eine offenbar für beide Teile sehr gute Ferienwoche verbracht hatten. Die Beiden schmiedeten bereits neue Pläne und niemand dachte ans Sterben. Doch im Grunde hatte sie genau auf diesen Tod gehofft. Sie wollte nicht immer älter und hilfloser werden. In diesem Sinn ist und war die Nachricht von ihrem Tod im Grunde eine gute Nachricht.

Mittlerweile bin ich dabei, wieder aufzubrechen. Wir haben meine Mutter beerdigt und angefangen, ihre Wohnung aufzulösen. Ich schreibe diese Zeilen in ihrer Wohnung in Arlesheim während meine Schwägerin Mirika und ihre beiden Mädels noch am Aufräumen sind. Heute Abend werde ich meinen Rucksack packen und morgen Nachmittag fliege ich von Frankfurt nach Teheran, wo ich um 21:25 eintreffen werde. Von Teheran geht's per Zug und Bus in den Süden nach Isfahan, Yazd und Sahedan. Von dort geht's nach Pakistan weiter, wo ich in ca. einer Woche zu sein hoffe ...

Entschuldigt das abrupte Ende. Es gäbe noch viel zu erzählen - vor allem die Gespräche mit Martin und Seffer sind hier viel zu kurz gekommen. Doch die Zeit drängt!

Damit lebt wohl für heute. Denkt hie und da an mich und freut Euch über die Annehmlichkeiten Eures hiesigen Lebens, über das allzeit verfügbare warme Wasser, über die zuverlässigen Auskünfte über Bus- und Bahnverbindungen, über die gut funktioniernde Verdauung, über die Leichtigkeit der sprachlichen Verständigung und den ganzen übrigen Luxus unserer Zivilisation. Man lernt ihn zu schätzen, wenn er fehlt.

Martin Näf

© 2005 by Martin Näf, Basel
Erstellt am Mo, 28.08.06, 09:01:19 Uhr.
URL: http://anderssehen.at/alltag/reise/indien/1.shtml

Valid HTML 4.01!
 
Valid CSS!
 
Bobby WorldWide Approved AAA