Hier sitze ich nun im ICE von Hamburg nach Basel, auf meinem Schoß ein Gerät, in dessen Speicher ich diesen Text schreibe. Nein, kein Laptop oder "reguläres" Notebook - da wären ja die Akkus leer, bevor ich in Kassel ankomme. Es ist ein spezielles Gerät für Blinde, in das ich den Text in Brailleschrift eingeben und über ein Brailledisplay lesen kann. Ich brauche keinen Kopfhörer im Ohr, weil ich die Sprache ja nicht höre, sondern wirklich lese. Dadurch entgeht mir nicht, wie die zwei jungen Damen mir gegenüber darüber spekulieren, wie dieses Gerät und unsere Schrift wohl funktioniert. Am besten, ich schalte mich jetzt in die Unterhaltung ein und erkläre es ihnen.
Im Jahre 1809 wurde in Coupvray bei Paris Louis Braille geboren. Als er 4 Jahre alt war, spielte er in der Werkstatt seines Vaters, eines Sattlers, mit einem Werkzeug, das er sich ins Auge rammte. Dadurch wurde er blind. Zum Glück wohnte er in der Nähe von Paris und konnte das dortige Blindeninstitut besuchen. Hier kam er mit einem Schriftsystem in Berührung, an dessen Entwicklung der französche Artilleriehauptmann Charles Barbier seit 1815 arbeitete. Es bestand aus 11 Punkten und sollte für Soldaten die Nachrichtenübermittlung auch im Dunkeln ermöglichen. Louis erkannte, dass man mit dieser Schrift Sinnvolleres tun könnte, dass es dafür aber notwendig wäre, sie zu vereinfachen und zu verbessern. Er reduzierte die 11 auf 6 Punkte, die in zwei senkrechten Reihen zu je 3 Punkten nebeneinander angeordnet sind. Man stelle sich einen Eierkarton mit 6 Eiern vor. Die Eier (oder Punkte) können wir nun nummerieren. Links oben ist Punkt 1, darunter Punkt 2, darunter Punkt 3. Rechts oben ist Punkt 4, darunter 5 und unten rechts ist Punkt 6. Die Buchstaben der Blindenschrift bestehen nun aus Kombination dieser Punkte: Steht Punkt 1 alleine, haben wir ein "a", Punkt 1 + 2 ergeben ein "b", Punkt 1 + 4 ein "c" usw.
Louis entwickelte für seine Schrift auch ein Schreibgerät, bei dem man schreiben kann, indem man die Buchstaben Punkt für Punkt in ein Papier sticht. Man braucht dazu eine Art Schablone, die wir als Tafel bezeichnen.
Inzwischen gibt es auch andere Geräte, mit denen man Punktschrift schreiben oder drucken kann. Bei der Punktschriftmaschine ist jedem Punkt eine Taste zugeordnet. Beim Schreiben eines Buchstabens drückt man einfach die Tasten gleichzeitig, die man zur Erzeugung dieses Zeichens braucht. Mit der Punktschriftmaschine kann man deshalb schneller schreiben als mit der Tafel, aber dafür ist sie nicht so bequem zu transportieren. Tafeln gibt es in allen Größen, von DIN A4 (oder vergleichbaren Formaten in anderen Ländern) bis hin zur einzeiligen Tafel, die man zur Beschriftung von Prägeband nutzen kann. Ich trage zum Beispiel immer eine 4-zeilige Tafel mit mir, die bequem in die Hemdentasche passt. Der Vorteil der Tafel gegenüber einem elektronischen Notizgerät ist nämlich, dass man eine Information, die man schreibt, auch ohne das Hilfsmittel lesen kann, auf dem man sie geschrieben hat. Die Tafel ist sozusagen der Kugelschreiber der Blinden. Meine Tafel hat auch Schlitze, durch die man Prägeband in den Breiten 9 und 13 mm führen und dieses dann bedrucken kann. Das schmalere Prägeband passt genau auf den Rücken von CDs, die ich mir auf diese Weise beschrifte. Mit dem breiteren kennzeichne ich Gewürzdöschen, verschiedene Flaschen, Kassetten, Disketten, Netzgeräte (damit ich nicht den Überblick darüber verliere, welches Netzteil zu welchem Gerät gehört), Ordner u. v. m. Etiketten kann man sich auch aus anderer Klebefolie oder einfach Papierzetteln herstellen, die man mit Gummiband befestigt.
Ich bin dienstlich und ehrenamtlich sehr viel unterwegs und muss oft in großen Hotels übernachten. Nicht alle Hotels haben Zimmernummern, die man ertasten kann. Mit meiner Tafel und Prägeband ist das kein Problem für mich: Ich schreibe mir mein Nummernschild selbst und klebe es - ja, wohin am besten? An der Tür selbst wird es oft von übereifrigem Reinigungspersonal entdeckt und entfernt. - Also klebe ich es auf die Unterseite der Türklinke. Dort ist es leicht zu finden, und kein "Unbefugter" hat es bisher vorzeitig entfernt.
Aber jetzt habe ich weit vorgegriffen. Kommen wir zurück zur Entwicklung unserer Schrift.
Als Louis Braille sie erfand, war er gerade 16 Jahre alt. Das war im Jahr 1825, vor 175 Jahren. Bei seinen Schulkameraden kam diese Schrift gleich sehr gut an: Endlich konnten sie sich gegenseitig (Liebes-)Briefchen schreiben, und keine Lehrer konnte ihnen auf die Schliche kommen. Diese lehnten die neue Schrift nämlich ab, weil sie so wenig Ähnlichkeit mit der der Sehenden hatte. Man versuchte lieber, tastbare Buchstaben der Druckschrift herzustellen, was mühsam zu lesen und noch mühsamer zu schreiben war. Der französische blinde Philosoph Pierre Villey hat deutlich gesagt, worin der logische Fehler solcher Reliefschriften liegt: "Sie sprechen zu den Fingern in der Sprache der Augen." Wie mühsam es gewesen sein muss, diese Erkenntnis und mit ihr die sinnvolle Alternative, die Braille'sche Blindenschrift, durchzusetzen, mögen folgende Fakten beweisen:
Die Entwicklung der Brailleschrift, mit deren Hilfe blinde Menschen erstmals die Möglichkeit hatten, sich auch schriftlich auszudrücken, war die größte Revolution in der Entwicklung des Blindenwesens. Gab es früher nur vereinzelte blinde Menschen, die ein durchschnittliches oder höheres Bildungsniveau erreichten, so wurde dies plötzlich allen möglich. War aber eine umfassende Bildung hat und seine Interessen selbst ausdrücken kann, der sieht nicht mehr ein, warum immer andere über sein eigenes Geschick das Sagen haben sollen. Die Geburtsstunde der Blindenselbsthilfebewegung hatte geschlagen. 1874, als die Brailleschrift noch nicht ganz 50 Jahre alt war, wurde in Berlin der erste Blindenverein gegründet, und in vielen anderen deutschen Ländern folgte man diesem Beispiel.
Auch außerhalb des eigentlichen Blindenwesens wurde der Nutzen dieser Schrift erkannt. So entstanden in allen Ländern Brailleschriftdruckereien und -bibliotheken. Da nicht jeder eine solche Bücherei in seiner Nähe hat, können die Bücher per Fernleihe ausgeborgt werden. Voraussetzung dafür, dass dieses System funktioniert ist eine Regelung, die Anfang des 20. Jahrhunderts in Kraft trat und inzwischen weltweit gilt: Brailleschrift braucht mehr Platz als reguläre Druckschrift. Punktschriftbücher haben häufig das Format 27 x 34 cm und, was ihre Dicke anbetrifft, wäre ein Telefonbuch eher ein dünneres Werk. Die Portokosten, die unsere Verlage und Büchereien, aber auch wir selbst, bezahlen müssten, wären also enorm. Punktschriftsendungen dürfen deshalb bis zu einem Gewicht von 4 kg(???) portofrei verschickt werden. Politiker, für die das Prinzip "sparen" über das Prinzip "Vernunft" geht, haben bereits mit dem Gedanken gespielt, diese Regelung abzuschaffen. Die Folgen kann sich jeder denkende Mensch selbst ausmalen. Einen solchen Rückschritt darf es nie geben.
Die Brailleschrift ist für Menschen wie mich, die wir sie täglich in unterschiedlichsten Situationen nutzen, nichts Zweitrangiges. Deshalb kämen wir nie auf die Idee, dass sie durch etwas anderes ersetzt werden könnte. Es gibt aber immer wieder Menschen, die das anders sehen. Als der Phonograph erfunden und zum Tonbandgerät und Kassettenrekorder weiter entwickelt wurde, gab es viele, die behaupteten, das sei jetzt das Ende der Brailleschrift. Sie sei nun überflüssig. Wie unsinnig eine solche Vorstellung ist, kann jeder leicht selbst testen. Er braucht nur eine Adressenkartei mit 100 Einträgen auf Kassette zu lesen und dann zu versuchen, schnell eine bestimmte Anschrift zu finden. Derjenige, der die Karteikarten in schriftlicher Form vorliegen hat, wird die gesuchte Information schneller und bequemer haben. Hinzu kommt, dass man sich Dinge, die man selbst liest, viel besser merken kann als solche, die man sich vorlesen lässt. Das wird jeder geübte Leser selbst bestätigen können. Im Übrigen: All diese segensreiche Erfindungen stehen auch sehenden Menschen zur Verfügung; wieso kommt keiner auf die Idee, dass solche Geräte das Ende der Schrift überhaupt bedeuten könnten?
Man kommt heute kaum umhin, von Computern zu sprechen, wenn es ums Lesen und Schreiben geht. Auch hier gab es wieder die Unkenrufe über das Ende der Brailleschrift. Und auch hier hat sich wieder gezeigt, dass das Gegenteil der Fall war: Die Produktion von Materialien in Brailleschrift wurde durch die Möglichkeiten, die der PC bietet, wesentlich erleichtert. Dem Brailleschriftleser steht jetzt ein größeres Informationsangebot in seiner Schrift zur Verfügung als je zuvor. Punktschriftdrucker sind inzwischen so erschwinglich geworden, dass sich auch Privatpersonen ein solches Gerät leisten können. Aber auch wer keinen Punktschriftdrucker besitzt, und das sind noch immer die meisten von uns, braucht am Computer nicht auf Brailleschrift zu verzichten: Es gibt Brailledisplays (auch als Braillezeile bezeichnet), bei denen mit Hilfe piezoelektrischer Bieger Stifte entsprechend den Buchstaben der Brailleschrift hochgedrückt werden. Der Bildschirm kann dadurch zeilenweise ausgelesen werden. Solche Geräte sind leider noch sehr teuer: Eine 40-stellige Zeile kosten um die DM 10.000,00. Gerade wenn es darum geht, Texte zu lesen, die tabellarisch angeordnet sind (z. B. Rechnungen, Kontoauszüge udgl.), hilft eine reine Computersprachausgabe, die alles flüssig am Stück vorliest, kaum weiter. Wenn endlich eine Technik gefunden wird, die die Herstellung preiswerter Braillezeilen ermöglicht, kann man statt einer Zeile vielleicht eine ganze "Braille-Seite" an den Computer anschließen. Welch herrliche Zeiten kommen dann erst auf uns zu!
In den deutschsprachigen Ländern gibt es in den letzten Jahren eine Diskussion um das Für und Wider der Rechtschreibreform. Viele hatten gehofft, die neuen Rechtschreibregeln würden endlich dazu führen, dass auch bei uns die Großschreibung so gehandhabt würde wie in vielen anderen Ländern: Eigennamen und Satzanfänge groß, der Rest klein. Befürworter unserer Großschreibregeln halten dem entgegen, Texte würden dadurch oft an Eindeutigkeit verlieren. Eine 6-Punkte-Zelle, wie wir sie in der Brailleschrift haben, ermöglicht 63 Punktekombinationen. Louis Braille musste also sparsam mit seinen Punkten umgehen. Das hat er unter anderem dadurch erreicht, dass er darauf verzichtet hat, eigene Zeichen für Großbuchstaben zu definieren. Wir praktizieren also in der Blindenschrift seit weit über 100 Jahren die absolute Kleinschreibung und haben keine Probleme damit. Natürlich können wir die Großschreibung darstellen: Wir verwenden Hilfszeichen, die z. B. besagen, dass der nächste Buchstabe im Originaltext groß geschrieben wurde. Ähnlich verhält es sich mit Zahlen. Für die Zahlen 1 - 0 verwenden wir die Buchstaben "a" bis "j". Vor die erste Ziffer setzen wir das sogenannte "Zahlenzeichen", das uns anzeigt, dass jetzt nicht eine Buchstaben- sondern eine Zahlenfolge kommt.
Als nun der PC Einzug in unser Leben hielt, standen wir plötzlich vor der Notwendigkeit, für eine 80-stellige Bildschirmzeile nur eine 80-stellige Braillezeile zur Verfügung zu haben. Hinzu kam, dass es Zeichen gab, an die Louis Braille nicht einmal im Traum gedacht hat, z. B. der Backslash oder der Klammeraffe. Man musste sich also etwas einfallen lassen, und das war der 8-Punkte-Computer-Code. Eine 8-Punkte-Schrift hatte es schon vorher gegeben: Sie sollte es blinden Stenotypisten ermöglichen, noch schneller bei Debatten mitzuschreiben, als sie dies mit der Stenografieschrift ohnehin konnten.
Beiden 8-Punkte-Systemen sind 2 Dinge gemeinsam: Sie bauen auf der Brailleschrift auf, wobei die zusätzlichen Punkte unter Punkt 3 und 6 gesetzt wurden. Und sie sind eine Hilfsschrift. Leider gibt es inzwischen Blindenlehrer/innen, die aus der Not eine Tugend machen wollen, indem sie diese Hilfsschrift zu dem Schriftsystem machen, das sie blinden Kindern als Erstes beibringen wollen. Es ist ja so praktisch, wenn blinde Kinder dann die gleichen Lehrbücher benutzen können wie sehende Erstklässler. Wir von der Blindenselbsthilfe sehen das ganz anders: So wie es unsinnig war, den Fingern der blinden Menschen eine Schrift aufzuzwingen, die "die Sprache der Augen" spricht, ist es auch verhängnisvoll, blinde Schüler mit Lehrbüchern zu unterrichten, die für die Bedürfnisse der Augen und nicht für die der tastenden Finger entwickelt wurden. Die Schrift, die ein Mensch als erste und wichtigste lernt, muss die sein, die in der Literatur vorkommt, und nicht die, die wir auf dem Computerdisplay lesen. Die "Experten" lassen sich durch unsere Argumente aber nicht beeindrucken. Schließlich wissen sie - davon scheinen sie überzeugt zu sein - ja besser als wir Betroffene, was wirklich gut für uns ist. Diese selbstherrliche Arroganz ist also nach 175 Jahren Brailleschrift noch immer nicht ausgemerzt.
Inzwischen besteht die Notwendigkeit der 1 : 1 Darstellung der Bildschirmzeile nicht mehr. Auf Initiative des Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverbandes läuft ein Forschungsprojekt an, als dessen Ergebnis es möglich sein wird, auf einer Braillezeile alle erforderlichen Zeichen im altbewährten 6-Punkte-System darzustellen.
Vieles hätte ich den Damen im Zug noch erzählen können: Von der Blinden-Notenschrift, die ebenfalls von Louis Braille entwickelt und inzwischen gemäß seiner Grundlage aktualisiert wurde (und von den "Experten", die gerade wieder behaupten, etwas Besseres entwickelt zu haben, obwohl ihr System von blinden Musikern einhellig abgelehnt wird); von der Kurzschrift, bei der Silben und ganze Wörter gekürzt werden, und die in vielen Ländern, darunter auch die deutschsprachigen, die gebräuchliche Schriftform ist; von Speisekarten in Punktschrift, die immer häufiger zu finden sind; von den Zeitschriften, die es in Punktschrift gibt, und die ich im Zug lese, wenn ich nicht gerade einen Artikel für die Gegenwart schreiben muss; von der Brailleschrift auf den Eintrittskarten zur Expo u. v. m. Aber sie wollten ja auch noch andere Dinge wissen: Was ich beruflich mache, und wie ich die verschiedenen Verrichtungen des Alltags, die sie sich nicht ohne Sehvermögen vorstellen können, erledige. Und natürlich redet man noch über andere Dinge, nicht nur die Blindheit.
Eines steht jedenfalls fest: Ohne Brailleschrift hätte ich nicht die Qualifikation erworben, die ich als pädagogischer Leiter des Deutschen Blindenbildungswerkes brauche - ja ohne die Möglichkeit, die eine eigene Schrift blinden Menschen bietet, gäbe es wahrscheinlich kein Blindenbildungswerk; ohne lesen zu können, hätte ich es nicht geschafft, Fremdsprachen zu erlernen und wäre wohl kaum Generalsekretär der Europäischen Blindenunion geworden, die es wohl auch nicht gäbe, wenn blinde Menschen sich nie selbständig in schriftlicher Form hätten ausdrücken können.
Ein Sechser im Lotto verändert sicher das Leben des Glücklichen, der den Treffer gelandet hat. Die 6 Richtigen, die uns Louis Braille beschert hat, ermöglichen uns aber überhaupt erst ein Leben in Würde und Selbstbestimmung, und die Chancen, mit diesem Sechser den Hauptgewinn zu erzielen, liegen nicht bei 1 : 14 Millionen. Fast jeder blinde Mensch - auch derjenige, der erst im Alter erblindet, kann sie noch erlernen.
Louis Braille war ein Genie! Und auf dieses Genie werde ich jetzt, da ich nicht mehr im Zug sitze, ein Gläschen trinken. Natürlich aus einer Flasche mit Brailleschrift-Etikett!
© 2000 by Norbert Müller
Erstellt am Do, 22.02.01, 08:01:19 Uhr.
URL: http://anderssehen.at/lesen/6richt.shtml