"Totgesagte leben länger." So behauptet der Volksmund. Ob er damit Recht hat, sei dahingestellt. Jeder von uns kann jedenfalls Beispiele finden, für die das Gesagte zutrifft. Auf eines der Beispiele, das mir besonders am Herzen liegt, möchte ich hier eingehen: Die Brailleschrift.
Die erste Blindenschule wurde 1784 in Paris gegründet; das war 25 Jahre, bevor in Coupvray in der Nähe von Paris Louis Braille geboren wurde, der 16 Jahre später eine Schrift entwickeln sollte, die nach ihm benannt wurde: Die Brailleschrift. Auf ihn komme ich später zurück; denn erst mussten ja einige Jahrzehnte Blindenbildung ohne seine segensreiche Erfindung überbrückt werden.
Eine Bildung ohne Schrift? Das ist schwer vorstellbar. In der Blindenschule in Paris - und dann auch in den anderen, die im frühen 19. Jahrhundert in vielen Ländern gegründet wurden, versuchte man deshalb, auch blinden Menschen die Schrift zugänglich zu machen. Man arbeitete mit Buchstaben, die aus Draht geformt oder mit anderen, vorwiegend mühsamen Verfahren fühlbar gemacht wurden. Lesen konnte man diese Schriften, aber nur langsam. Und schnell mal was aufschreiben war gar nicht möglich.
Versuche mit tastbaren Schriften wurden jedoch nicht nur in der Blindenbildung durchgeführt. Frankreich wurde im frühen 19. Jahrhundert von Kaiser Napoleon regiert, und dieser wollte die Errungenschaften der Französischen Revolution - oder das, was noch davon übrig geblieben war - auch anderen Ländern zukommen lassen. So wurde Europa mit Kriegen überzogen. Soldaten sollen aber auch im Dunkeln wissen, was sie zu tun haben, und das sollen sie möglichst so erfahren, dass der Gegner es nicht auch gleich mitbekommt. Deshalb hat ein französischer Artilleriehauptmann namens Charles Barbier verschiedene, auf Punkten basierende Schriften entwickelt, die diesem Zweck dienen sollten. Ab 1815 veröffentlichte er mehrere Variationen seiner Schrift, von denen sich aber keine durchsetzen konnte. Die Sache Napoleons war ohnehin verloren, so dass seine Erfindung nicht mehr in die "Hochkonjunktur" fiel.
Zurück zu Louis Braille. Mit 4 Jahren verletzte er mit einem Werkzeug seines Vaters - mit dem er sicher unerlaubter Weise spielte - ein Auge. Zunächst erblindete er auf dem verletzten, aber bald auch auf dem anderen Auge. Louis wurde Schüler der Blindenschule in Paris, wo er mit Barbiers Schrift in Berührung kam. Diese Schrift, das merkte das junge Genie Louis rasch, hatte einige Schwächen: zum einen war es eine Lautschrift, die sich um die offizielle Rechtschreibung wenig scherte; zum anderen bestand sie aus zu vielen, nämlich 11 Punkten. Was Louis und seine Mitschüler sich wünschten, war eine Schrift, die man gut fühlen, aber auch leicht selber schreiben konnte. Louis reduzierte die Zahl der Punkte auf 6, angeordnet in drei übereinanderliegenden Zweierreihen.
Man stelle sich also einen Eierkarton mit 6 Eiern vor (es geht ebenso gut mit Mozartkugeln - auch die gibt's im Sechserpack). Wenn alle Eier oder Kugeln im Karton sind, haben wir die Grundzelle der Brailleschrift. Nehmen wir nun einzelne Eier oder Kugeln heraus, können wir Buchstaben formen. Ist z. B. nur der Punkt links oben vorhanden, haben wir ein a. Legen wir noch ein Ei darunter, ergibt das ein b. Sind nur die beiden oberen Mulden belegt, ergibt das ein c usw. Da Eier für das Lesen ungeeignet sind, und da Mozartkugeln damals noch nicht erfunden waren, hat Braille auf einfache Punkte zurückgegriffen, die man in Papier drücken konnte.
Um die Schrift besser erklären zu können, hat man nun die einzelnen Punkte nummeriert: Der Punkt links oben ist Punkt 1, der darunter Punkt 2 und der links unten Punkt 3; rechts oben geht's weiter mit Punkt 4, darunter Punkt 5 und rechts unten befindet sich Punkt 6. Wie oben erörtert, besteht das a aus Punkt 1, das b aus den Punkten 1 und 2, das c aus 1 und 4 usw.
Bei der Entwicklung der Schrift ging Louis sehr systematisch vor: Die Punkte der Buchstaben a bis j befinden sich alle in den oberen zwei Dritteln der 6-Punkte-Zelle, bestehen also aus Kombinationen der Punkte 1, 2, 4 und 5, wobei immer Punkt 1, Punkt 4 oder beide benutzt werden. Beim k kommt nun Punkt drei dazu, und das Schema der ersten 10 Buchstaben wiederholt sich; das heißt: Das k ist ein a mit Punkt 3 darunter, das n ein d mit Punkt drei. Beim u kommen nun die beiden unteren Punkte dazu, ansonsten beginnt das gleiche Muster wieder von vorne: das u ist also ein a mit den Punkten 3 und 6, das v ein b mit 3 und 6 und dann kommt der traurige Moment, in dem wir uns eingestehen müssen, dass Louis Braille leider kein Deutscher war: Das w kam in seinem Alphabet nicht vor, und deshalb tanzt es aus der Reihe: Es besteht aus den Punkten 2, 4, 5 und 6, ist also ein j mit Punkt 6. Beim x geht's dann "normal" weiter: Es ist ein c mit den Punkten 3 und 6.
Ich habe vor Jahren einen Beitrag gelesen, in dem ein Mathematiker nachgewiesen hat, dass Braille sogar bei der Zuordnung der Punkte zu den Buchstaben a bis j systematisch vorgegangen ist. Aber leider ist mein Verhältnis zur Mathematik leicht gestört, und deshalb kann ich das nicht erklären.
Insgesamt 63 Kombinationen lassen sich aus der 6-Punkte-Grundform ableiten; Man konnte also auch die französischen Akzentbuchstaben und alle Satzzeichen darstellen, wobei letztere nur die unteren zwei Drittel der Braille'schen Zelle benutzen. Louis trug damit der Tatsache Rechnung, dass die Empfindlichkeit der Tastzellen in den Fingerkuppen von der Spitze nach unten abnimmt, und Buchstaben kommen nun mal häufiger vor als Satzzeichen.
Für die Zahlen hatte Louis eine besondere Regelung ausgeklügelt: Er verwendete die Buchstaben von a bis j, wobei a die 1, b die 2, c die 3 usw. bis i = 9 und j = 0 ist. Damit man nun weiß, ob es sich um Zahlen oder Buchstaben handelt, muss vor die erste Ziffer ein besonderes Zeichen, das sog. "Zahlenzeichen" gesetzt werden. Es besteht aus den Punkten 3, 4, 5, 6. Ohne dieses Zeichen wüßten wir nicht, ob der stolze Vater, der seiner Frau sagt, dass er selbst seine kleine Tochter in der Badewanne reinigen möchte, Zahlen addiert (938 2145 85949) oder sagt: "Ich bade Heidi&Quot;!
Louis Braille entwickelte auch ein Gerät, mit dem man diese Schrift schreiben konnte. Wir bezeichnen dieses Gerät als "Tafel". Es besteht aus einer Grundplatte, auf der Löcher entsprechend dem Muster der Braille'schen 6-Punkte-zelle eingestanzt sind, und einer Klappe, die an der Grundplatte mit Scharnieren befestigt ist. Auch sie zeigt das Muster der Zelle, allerdings sind die Zellen hier leer. Die Klappe passt so auf die Grundplatte, dass man mit einem spitzen Stift durch die leere Zelle die 6 Löcher in der Grundplatte erreichen kann; allerdings wird zwischen Boden und Deckel ein Blatt Papier gelegt; man muss also durch das Papier stechen, um die Löcher der Grundplatte zu erreichen. Da die Löcher der Grundplatte in Wahrheit kleine Mulden - also unten nicht offen sind - kann man nun mit dem Stift das Papier nicht durchbohren; man erzeugt lediglich Punkte - und das ist genau das, was wir zum Lesen benötigen.
Dieses Schreibgerät hat nur einen kleinen Haken, der allerdings heutzutage sehr aufgebauscht wird: Wenn wir Löcher bohren müssen, um Punkte zu erhalten, müssen wir ja das Blatt nach dem Schreibvorgang herumdrehen, damit wir die Punkte auf der Unterseite nach oben kriegen. Wenn wir von links nach rechts lesen, müssen wir deshalb von rechts nach links schreiben. Über hundert Jahre haben blinde Schüler trotzdem ohne Mühe mit dieser Methode schreiben gelernt. Dann haben sich die Blindenpädagogen überlegt, dass das doch viel zu schwer ist. (Es ist natürlich ein schönes Kompliment für meine Generation, dass man uns noch zugetraut hat, womit man die jüngeren Generationen für überfordert hält!) Die Folge ist, dass jetzt sechsjährige Kinder ihre Fingerkraft gleich an den Tasten einer Punktschriftmaschine stärken dürfen und das Schreiben auf der Tafel häufig überhaupt nicht mehr erlernen. - Aber darauf - und auch auf die Punktschriftmaschine - komme ich später noch zurück.
Die Mitschüler von Louis Braille waren über die neue Schrift begeistert. Endlich konnten sie sich auch gegenseitig etwas schreiben. Ihre Lehrer sahen die Dinge anders: Da die Buchstaben so ganz anders aussahen als die allgemein gebräuchlichen, fürchteten sie, diese Schrift würde die Blinden gesellschaftlich isolieren. Ähnliches kennt man auch aus anderen Bereichen: Auch an Gehörlosenschulen gibt es Bestrebungen, die Gebärdensprache zu unterdrücken, da sie nicht immer von der breiten Öffentlichkeit verstanden wird. Die Schüler aber unterhalten sich munter weiter mit ihren Gebärden, die ihnen die Verständigung untereinander doch sehr erleichtern.
So war es auch mit der Brailleschrift; und da sich gute Dinge nie auf Dauer unterdrücken lassen, setzte auch sie, deren Erfindung auf das Jahr 1825 datiert wird, sich in den folgenden Jahrzehnten weltweit durch.
Es gab natürlich auch andere, mit ihr konkurrierende Schriftsysteme. Allein in den USA wurden gleichzeitig drei verschiedene Punktschriften entwickelt, und erst 1933 hat man sich dort endgültig auf das System der Brailleschrift geeignet, wie es weltweit verwendet wird! In Deutschland erfolgte das immerhin schon auf dem Blindenlehrerkongress 1879.
Ich habe oben geschildert, wie die Brailleschrift auf der dafür vorgesehenen Tafel geschrieben werden kann. Wie aber liest man sie? Die gebräuchlichste Technik ist das beidhändige Lesen, wobei die Zeigefinger die Lesefinger sind: Man legt die Hände so auf das Papier, dass die Arme entspannt liegen und sozusagen aufeinander zu zeigen (wir wollen keinen Winkel von 180 Grad). Die Zeigefinger liegen nun an der Stelle, die gelesen werden soll. Beide Finger beginnen nun mit dem Lesen einer Zeile. Etwa in der Mitte oder nach zwei Dritteln der Reihe beginnt der rechte Zeigefinger, die Zeile alleine zu Ende zu lesen, während der linke schon zum Anfang der nächsten Zeile geht. Hat der rechte Zeigefinger das Ende der Zeile erreicht, beginnt der linke schon, die neue Zeile zu lesen; der rechte kommt dazu, und das Ganze beginnt von vorne.
Leider wird diese Lesetechnik nicht immer trainiert; es gibt viele Menschen, die die Brailleschrift nur mit einem Finger lesen. Experten sind sich aber weitgehend einig, dass die oben beschriebene Technik die effektivste und schnellste ist. Es spricht nichts dagegen, mehr als nur den Zeigefinger zum Lesen einzusetzen; es gibt aber nur wenige, die eine solche Technik wirklich gemeistert haben.
Die Brailleschrift machte nicht nur die Verständigung von Blinden untereinander möglich; man konnte nun auch Bücher und andere Schriftstücke abschreiben und - nachdem entsprechende Verfahren erst einmal entwickelt waren - auch in größerer Stückzahl in Brailleschrift veröffentlichen. Man kann ohne Übertreibung sagen, dass eine umfassende Bildung blinder Menschen erst durch diese Schrift möglich wurde. Wer sich in die Gesellschaft integrieren will, muss das entsprechende Rüstzeug haben. Will er oder sie gleichberechtigt am gesellschaftlichen Leben teilnehmen, muss er/sie über einen Bildungsstand verfügen, der in dieser Gesellschaft als gegeben vorausgesetzt werden kann. Die eigene Schrift der Blinden hat ihre Integration also nicht verhindert, sondern erst wirklich möglich gemacht.
Mit dem eigenen Bildungsniveau steigt aber auch das Selbstbewusstsein. Schon bald war es für viele blinde Menschen nicht mehr nachzuvollziehen, warum immer andere über ihr Schicksal entscheiden sollten. Das war die Geburtsstunde der Selbsthilfebewegung - in Deutschland geschah dies z. B. in den 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts. Als die älteste Blindenselbsthilfeorganisation gilt der Allgemeine Blindenverein Berlin (heute Allgemeiner Blinden- und Sehbehindertenverein Berlin gegr. 1874 e. V.).
Aber zurück zur Geschichte der Brailleschrift: Auf eine wichtige Erfindung muss noch eingegangen werden: Die Punktschriftmaschine. Die Amerikaner behaupten, es sei ein Mr. Hall gewesen, der sie als erster entwickelt hat. In Deutschland sagen wir, es war der Blindenlehrer Oskar Picht. Er stellte im Jahre 1899 seine erste Punktschriftmaschine vor. Das Prinzip dieser Maschinen - egal, ob man die Pichtïsche oder die Hall'sche Entwicklung verfolgt, ist immer das gleiche: Stellen wir uns noch einmal unsere Brailleschrift-Grundzelle vor. Wir haben oben nebeneinander die Punkte 1 und 4. Jetzt biegen wir diese Zelle auseinander, so dass wir die Punkte 3 und 6 voneinander weg kreisförmig nach oben schieben, bis wir eine waagerechte Reihe haben. Die Punkte liegen, von links nach rechts, in der Reihenfolge 3, 2, 1, 4, 5, 6. Das ist genau die Reihenfolge, in der die Punkte bzw. die dazugehörigen Tasten auf einer Punktschriftmaschine angeordnet sind. Man muss nur die Tasten zusammen drücken, die man für einen Buchstaben braucht, und schon entsteht das ganze Zeichen. Gegenüber der Tafel, wo man ja jeden Punkt einzeln drücken muss, bringt das einen großen Geschwindigkeitsvorteil.
Die Punktschriftmaschine ist natürlich größer als eine Tafel, somit auch schwerer und deshalb nicht so leicht zu transportieren. Es gibt kleine Notiztafeln, die in eine Hemdentasche passen. Da kann die Maschine nicht mithalten. Viele Blinde sagen deshalb, dass die Tafel auch heute noch für sie unverzichtbar ist, weil sie sozusagen das Gegenstück zum Kugelschreiber des Sehenden darstellt.
Die Punktschriftmaschine hat gegenüber der herkömmlichen Tafel noch einen Vorteil, der nicht unerwähnt bleiben darf: Die Punkte werden nicht von oben nach unten, sondern von unten nach oben gedrückt. Dadurch kann man das Geschriebene sofort lesen, ohne das Blatt erst ausspannen zu müssen. Es wurden bereits sog. "Positiv-Tafeln" entwickelt, bei denen die Grundplatte anstatt Löcher Spitzen hat, auf die man mit einem "hohlen" Stift drückt; sie alle lassen aber im Bezug auf die Schriftqualität und die Geschwindigkeit beim Schreiben noch einiges zu wünschen übrig, so dass sich diese Tafeln nicht durchgesetzt haben.
Um Platz zu sparen, und um die Lesegeschwindigkeit zu erhöhen, hat man in einigen Ländern, darunter auch in den deutschsprachigen, eine Kurzschrift eingeführt, bei der häufig vorkommende Silben und ganze Wörter gekürzt werden können. Dies ist die Schrift, in der bei uns die meisten Bücher und Zeitschriften gedruckt werden.
Wenn ich weiter oben behauptet habe, dass die Brailleschrift sich heute weltweit durchgesetzt hat, so bedeutet das leider nicht, dass es inzwischen keine Angriffe mehr gegen sie gäbe. Einer ihrer Nachteile besteht darin, dass sie - zumindest wenn sie auf Papier gedruckt wird - sehr viel Platz braucht. Zum anderen war ihre Herstellung - zumindest was Bücher und Zeitschriften anging - relativ aufwendig. Als es technisch möglich wurde, Sprache auf Schallplatten und später auf Spulen-Tonbänder und Kassetten aufzuzeichnen, wurden sofort Stimmen laut, die jetzt das Ende der Brailleschrift voraussagten. Immerhin boten die neuen technischen Errungenschaften drei Vorteile: Bücher und Zeitschriften konnten schneller produziert werden, sie beanspruchten weniger Platz beim Verstauen, und sie waren in einem "Medium" erhältlich, das auch sehenden Menschen zugänglich war. Der Nachteil dieser Medien ist natürlich, dass man beim Lesen weitgehend darauf angewiesen war, den Text "Am Stück" zu lesen; Querlesen geht bei Tonbändern und Kassetten nicht. Dieser Nachteil wird besonders deutlich, wenn man an Karteien denkt: In einer Adressenliste in Brailleschrift kann man sehr schnell die gewünschte Information finden; bei Kassetten wird das eine langwierige Sache. Erfahrene Punktschriftleser erkannten denn auch sehr schnell, dass Tonaufzeichnungen ihre Schrift nicht ersetzen konnten. Anders sah und sieht es allerdings bei Personen aus, die erst später im Leben ihre Sehkraft verloren: Sie waren - leider sehr oft bestärkt durch Aussagen wie "Sie brauchen die Brailleschrift nicht zu erlernen" - nur zu gerne bereit, sich mit den Möglichkeiten der Kassette zu begnügen und somit ein erhebliches Stück Selbständigkeit aufzugeben.
Anfang der Siebziger Jahre unseres Jahrhunderts kam dann ein Gerät, das es ermöglichte, die Buchstaben der Schrift der Sehenden tastbar zu machen. Das Gerät nannte sich Optacon (Optical to Tactical Converter). Es schaffte die Möglichkeit, reguläre Schriftstücke sofort und OHNE FREMDE HILFE - lesen zu können.
Der Nachteil des Optacon bestand darin, dass selbst geübte Leser kaum über ein Tempo von 90 Wörtern pro Minute hinauskamen. Auch wenn gerade Geburtsblinde dieses Gerät dankbar als Ergänzung zur Brailleschrift akzeptierten, wurde doch rasch klar, dass dieses Gerät unsere Schrift nicht überflüssig machen konnte, zumal sein Preis 10 000 DM) kein Pappenstiel war. Hinzu kam, dass es mit dem Optacon kaum möglich war, Handschrift zu lesen, so dass die Brailleschrift ohnehin als "Schreibschrift" unverzichtbar blieb. Dennoch ging die Begeisterung für dieses Gerät so weit, dass es in Italien vor dem Gebäude der italienischen Punktschriftdruckerei und -bücherei zu Demonstrationen kam, weil diese Einrichtung mit ihrem ewig gestrigen Personal dem Fortschritt im Wege stand.
Und dann kam der Vormarsch der Personalcomputer und mit ihnen die Möglichkeit, das, was auf dem Bildschirm steht, von einer Sprachausgabe vorlesen zu lassen. Wieder ertönte der Ruf, dass jetzt endgültig das Ende der Brailleschrift gekommen sei; und wieder erwies sich das als falsch. Ein Nachteil einer Sprachausgabe besteht darin, dass man mit ihrer Hilfe nur über Umwege eine Information über die Textgestaltung erhalten kann. Auch Rechtschreibfehler sind nicht immer zu erkennen. Nehmen wir als Beispiel das Wort "war" bzw. "wahr". Beide Wörter existieren. Kein Rechtschreibprogramm wird sie also beanstanden. Die Sprachausgabe spricht sie gleich aus. Der Blinde kann den eventuell gemachten Fehler also nur erkennen, wenn er das Wort "unter dem Finger" hat. Und dies ist ihm möglich, weil es die sogenannten Braillezeilen oder Brailledisplays gibt. Hier werden auf piezoelektrischem Weg Stifte hochgedrückt, die die jeweils darzustellenden Buchstaben darstellen.
Hierbei ergab sich aber ein Problem: Aus den 6 Punkten der Braille'schen Grundzelle lassen sich - wie oben vermerkt - 63 Kombinationen erzeugen; der klassische ASCII-Code verfügt aber über 255 Zeichen. Man löste das Problem, indem man die Zelle von 6 auf 8 Punkte erweiterte, wobei sich Punkt 7 unter Punkt 3 und Punkt 8 unter Punkt 6 befindet. Es sei deutlich darauf hingewiesen, dass in regulären Büchern und Zeitschriften weiterhin die 6-Punkte-Schrift beibehalten wird; lediglich bei der reinen Bildschirmdarstellung war es notwendig, dafür zu sorgen, das jedem Zeichen auf dem Bildschirm auch nur ein Zeichen auf der Braillezeile entsprach.
Der Computer brachte unschätzbare Vorteile für blinde und sehbehinderte Menschen: Es stand plötzlich eine nie geahnte Menge an Informationen zur Verfügung, und diese kann per Internet vom eigenen Schreibtisch aus herbeigeschafft werden. Da das Internet vorwiegend für sehende Menschen gemacht wurde, gibt es zwar auch hier Probleme, aber an deren Lösung wird weltweit mit Eifer gearbeitet.
Computer revolutionierten auch die Herstellung von Literatur in Punktschrift. Texte, die computermäßig erfasst sind, lassen sich sehr leicht in Blindenschrift, sogar in Kurzschrift, übertragen. Der Zeit- und Arbeitsaufwand, der zum Herstellen von Material in Brailleschrift erforderlich ist, hat sich dadurch gewaltig reduziert. Von besonderer Bedeutung ist dabei die Texterkennung: Selbst blinde Menschen, die vom Computer wenig Ahnung haben, können mit speziell für sie entwickelten Programmen Texte mit einem Scanner "einlesen" und sie sich so vorlesen lassen. Solche Geräte werden - wenn auch oft widerwillig - von Krankenkassen finanziert.
Geschadet hat diese Entwicklung dem Optacon. Seine Herstellerfirma gab 1996 bekannt, dass sie die Produktion des Gerätes eingestellt hat. Die Brailleschrift aber behält weiterhin ihren Platz. Viele blinde Menschen haben festgestellt, dass man Texte, die man selber, also mit den Fingern, liest, besser im Gedächtnis behält als die, die nur vorgelesen werden. Auch wer sich rasch einen Überblick über einen Text verschaffen will, kann dies viel effektiver mit der Punktschrift tun, bei der er Texte sozusagen querlesen kann. Hinzu kommt, dass die Brailleschrift auch da noch bequem zum Einsatz kommen kann, wo sie der Computer nicht oder nur sehr umständlich ersetzen könnte: Bei Etiketten zum Beispiel. Meine Frau und ich haben unsere Gewürzdosen in Punktschrift beschriftet; auf dem Rücken unserer CDs steht in Brailleschrift, um welche CD es sich handelt. Gleiches tun wir bei Minidiscs, Kassetten, Spirituosen, Ordnern und Hüllen mit Dokumenten in Schwarzschrift, Computerdisketten und CD-ROMs u.a.m. Wir finden die Türklingeln unsere blinden Freunde, weil sie in Brailleschrift beschriftet sind. Es gibt Weingüter, die ihre Weinflaschen mit Brailleschrift etikettieren - zum Glück haben sie sehr guten Wein, so dass man die Flaschen auch wirklich gerne kauft! Mehr und mehr Lokale bieten Speisekarten in Brailleschrift an (Sie wären wohl kaum bereit, ihren blinden Gästen einen speziell ausgerüsteten Computer zur Verfügung zu stellen, damit diese selbständig das Menü auswählen können).
Es soll nicht verschwiegen werden, dass trotz ihrer unschätzbaren Vorteile die Brailleschrift nur von etwa 30 000 der insgesamt 155 000 blinden Bundesbürger beherrscht wird. Einer der Gründe hierfür ist die Altersstruktur unter den Blinden: Die meisten Menschen verlieren ihr Augenlicht erst im höheren Lebensalter, und diese Personen wollen sich nicht mehr damit plagen, noch einmal eine neue Schrift zu erlernen. Das Vorurteil, wonach Brailleschrift schwer zu lernen sei, trägt wesentlich hierzu bei. Hinzu kommt, dass viele sehbehinderte Schüler die "Blindenschrift" nicht mehr erlernen "müssen", weil sie ja noch - wenn auch oft mit großer Anstrengung - die reguläre Schrift lesen können. Man argumentiert damit, dass ihnen so ein viel größeres Angebot an Lesestoff zur Verfügung steht. Aber was nützt mir das große Angebot, wenn ich wegen Augen- oder Kopfschmerzen doch nur für kurze Zeit lesen kann. Richtiger wäre, diesem Personenkreis beide Schriften zu vermitteln und die Betroffenen selbst entscheiden zu lassen, in welcher Situation und für welche Aufgabe ihnen welche Schrift am besten geeignet scheint.
Langsam aber sicher setzt sich diese Erkenntnis durch. Und deshalb können wir mit Bestimmtheit sagen, dass die Brailleschrift auch weiterhin ihren festen Platz im Leben von blinden und stark sehbehinderten Menschen haben wird. Der technische Fortschritt führt sie nicht ad absurdum; aber sie hilft uns, den technischen Fortschritt besser nutzen zu können!
© 2000 by Norbert Müller
Erstellt am Fr, 19.07.02, 08:01:19 Uhr.
URL: http://anderssehen.at/lesen/braille.shtml